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2. Mose 32,7-14 | Rogate | 05.05.2024

Einführung in das 2. Buch Mose

Die Pentateuchforschung ist nicht erst seit einigen Jahren, sondern schon seit fast vier Jahrzehnten im Umbruch. Die europäische Forschung hat das Modell der Urkundenhypothese weitgehend aufgegeben, während es in Nordamerika und in Israel Versuche gibt, diese weiterzuentwickeln. An die Stelle des alten Konsenses ist allerdings kein neuer getreten, sodass leider von einer neuen Unübersichtlichkeit gesprochen werden muss. Die jüngeren Arbeiten zum Pentateuch als Ganzen wie auch die zum Exodusbuch lassen sich unter literargeschichtlichen Gesichtspunkten in vier Paradigmen einteilen.

  • Da sind zum einen jene, die den Umbrüchen zum Trotz an einer Version der Urkundenhypothese festhalten (Joel Baden, Graham Davies, Thomas Dozeman, William Propp, Werner H. Schmidt, Baruch Schwartz).
  • Eine andere Gruppe von Auslegern meint, eine Vielzahl von kleinen und kleinsten Fortschreibungen entdecken zu können, die kommentarartig aufeinander aufbauen (Christoph Berner, Stephen Germany, Shimon Gesundheit, Christoph Levin).
  • Wieder eine andere Gruppe ist der Auffassung, dass am Anfang thematisch begrenzte, kürzere Erzählungen standen (Erzelternerzählung, Josefsgeschichte, Exoduserzählung, Landnahmeerzählung usw.), die sukzessive in wenigen Schritten miteinander verknüpft und erweitert wurden (Rainer Albertz, Erhard Blum, Jan Christian Gertz, Wolfgang Oswald, Thomas Römer, Erich Zenger).
  • Eine vierte Gruppe schließlich erkennt zwar an, dass der Pentateuch über einen längeren Zeitraum entstanden ist, hält aber den Versuch der Rekonstruktion dieser Prozesse für aussichtslos oder nutzlos und wendet sich daher dem Endtext zu (Georg Fischer, Cornelis Houtman, Dominik Markl, Christoph Dohmen, Helmut Utzschneider).

Mit diesen Umbrüchen einher geht eine Neujustierung der Abfassungszeit(en) der Pentateuchtexte. Während die klassische Urkundenhypothese die frühe Königszeit favorisierte, werden aktuell überwiegend nachmonarchiezeitliche Datierungen vertreten. Heute wird die Geschichte Israels vorwiegend auf Basis der archäologischen Befunde rekonstruiert und diese besagen, dass eine umfangreiche Literaturproduktion erst ab dem 8. Jahrhundert v.Chr. vorstellbar ist. Aus vielerlei Gründen wird jedoch angenommen, dass die meisten Textgruppen des Pentateuchs sogar noch jünger sind und erst in babylonischer und persischer Zeit geschrieben wurden.

1. Verfasser

Über die Verfasser als Individuen wissen wir nach wie vor so gut wie nichts. Ertragreicher ist daher die Frage nach Verfasserkreisen, denn die verschiedenen Textgruppen des Pentateuchs weisen unterschiedliche Prägungen auf. Am profiliertesten sind die Texte, die man als „Priesterschrift“ oder „Priesterliche Komposition“ bezeichnet. Die Identifizierung dieser Texte und ihre Zuschreibung zu priesterlichen, näherhin aaronitischen Kreisen sind das Einzige, was die Umbrüche der Pentateuchkritik nahezu unverändert überstanden hat. Allerdings denkt man heute, was die Datierung betrifft, weniger an das babylonische Exil als vielmehr an die fortgeschrittene Perserzeit. Relativ deutlich ist auch die Zuschreibung des Deuteronomiums und der deuteronomistischen Texte zu einer gesellschaftlichen Gruppierung, in diesem Fall der Ältesten als einer laikalen Elite, die in diesen Texten eine wichtige Rolle innehaben. Die Datierung der Erstausgabe des Dtn ist nach wie vor umstritten, aber was die dtr. Erweiterungen und die Texte des deuteronomistischen Geschichtswerkes (DtrG) betrifft, so besteht ein recht großer Konsens, dass diese frühestens aus der spätbabylonischen, eher aus der frühpersischen Zeit stammen. Alle weiteren Textgruppen stammen wohl auch von laikalen Eliten der Babylonier- und Perserzeit.

2. Adressaten

An einigen Stellen wird erwähnt, dass die Gesetze vor der Volksversammlung verlesen wurden (Ex 24,3.7; Jos 8,34) bzw. verlesen werden sollen (Dtn 31,10–13). Auch Neh 8; Neh13,1 belegen diese Praxis. Weiter wird mehrfach gesagt, dass die Gesetze gelehrt und gelernt werden sollen (Dtn 6,1–2.6–9). Diese Praxis bezieht sich jedoch nur auf die Gesetze. Die umfangreichen narrativen Passagen sind Zeugnisse einer Diskussion unter den gesellschaftlichen Eliten über die Frage: „Was ist Israel?“ Aber auch die Erzählungen waren in Kurzform Gegenstand von Lehre, wie die sog. Sohnesfragen zeigen (z.B. Ex 12,26–27; Ex 13,14–15; Dtn 6,20–25; Jos 4,6–7; Jos 4,21–24).

3. Entstehungsort

Die Jakobserzählung hat ihre literarischen Anfänge im ehemaligen Nordreich Israel nach dessen Ende im Jahr 722. Die Exoduserzählung stammt wohl aus dem spätkönigszeitlichen Jerusalem und thematisiert die Probleme der kurzen ägyptischen Oberherrschaft am Ende des 7. Jahrhunderts. Die weiteren Erzählungen und Gesetze sind wahrscheinlich in babylonischer sowie in früh- und mittelpersischer Zeit im nicht zerstörten Teil des Landes entstanden: im ehemaligen Nordreich und im Gebiet von Benjamin. Die spätpriesterlichen und nachpriesterlichen Teile des Pentateuch wurden im 4. Jahrhundert sicher wieder in Jerusalem abgefasst.

4. Wichtige Themen

Im Pentateuch geht es wie im ganzen AT in erster Linie um Israel:

  • Was ist Israel?
  • Wer gehört zu Israel?
  • Welche Ordnungen gelten in Israel?

In diesem Horizont wird dann auch die Frage nach Gott gestellt:

  • Wie ist das Verhältnis von Gott und Israel?
  • Wie wirkt Gott auf das Tun und auf das Ergehen Israels ein?
  • Was hat Gott mit Israel vor?

Literatur:

  • Albertz, R., 2012, Exodus 1–18 (ZBK.AT 2.1), Zürich.
  • Ders., 2015, Exodus 19–40 (ZBK.AT 2.2), Zürich.
  • Fischer, G. / Markl, D., 2009, Das Buch Exodus (NSK-AT 2), Stuttgart.
  • Utzschneider, H. / Oswald, W., 2013, Exodus 1–15 (IEKAT), Stuttgart.
  • Dies., 2023, Exodus 16–40 (IEKAT), Stuttgart.

A) Exegese kompakt: 2. Mose 32,7-14

Die Reue Gottes als Chance zur Umkehr für Israel

7וַיְדַבֵּ֥ר יְהוָ֖ה אֶל־מֹשֶׁ֑ה לֶךְ־רֵ֕ד כִּ֚י שִׁחֵ֣ת עַמְּךָ֔ אֲשֶׁ֥ר הֶעֱלֵ֖יתָ מֵאֶ֥רֶץ מִצְרָֽיִם׃ 8סָ֣רוּ מַהֵ֗ר מִן־הַדֶּ֨רֶךְ֙ אֲשֶׁ֣ר צִוִּיתִ֔ם עָשׂ֣וּ לָהֶ֔ם עֵ֖גֶל מַסֵּכָ֑ה וַיִּשְׁתַּֽחֲווּ־לוֹ֙ וַיִּזְבְּחוּ־ל֔וֹ וַיֹּ֣אמְר֔וּ אֵ֤לֶּה אֱלֹהֶ֨יךָ֙ יִשְׂרָאֵ֔ל אֲשֶׁ֥ר הֶֽעֱל֖וּךָ מֵאֶ֥רֶץ מִצְרָֽיִם׃ 9וַיֹּ֥אמֶר יְהוָ֖ה אֶל־מֹשֶׁ֑ה רָאִ֨יתִי֙ אֶת־הָעָ֣ם הַזֶּ֔ה וְהִנֵּ֥ה עַם־קְשֵׁה־עֹ֖רֶף הֽוּא׃ 10וְעַתָּה֙ הַנִּ֣יחָה לִּ֔י וְיִֽחַר־אַפִּ֥י בָהֶ֖ם וַאֲכַלֵּ֑ם וְאֶֽעֱשֶׂ֥ה אוֹתְךָ֖ לְג֥וֹי גָּדֽוֹל׃ 11וַיְחַ֣ל מֹשֶׁ֔ה אֶת־פְּנֵ֖י יְהוָ֣ה אֱלֹהָ֑יו וַיֹּ֗אמֶר לָמָ֤ה יְהוָה֙ יֶחֱרֶ֤ה אַפְּךָ֙ בְּעַמֶּ֔ךָ אֲשֶׁ֤ר הוֹצֵ֨אתָ֙ מֵאֶ֣רֶץ מִצְרַ֔יִם בְּכֹ֥חַ גָּד֖וֹל וּבְיָ֥ד חֲזָקָֽה׃ 12לָמָּה֩ יֹאמְר֨וּ מִצְרַ֜יִם לֵאמֹ֗ר בְּרָעָ֤ה הֽוֹצִיאָם֙ לַהֲרֹ֤ג אֹתָם֙ בֶּֽהָרִ֔ים וּ֨לְכַלֹּתָ֔ם מֵעַ֖ל פְּנֵ֣י הָֽאֲדָמָ֑ה שׁ֚וּב מֵחֲר֣וֹן אַפֶּ֔ךָ וְהִנָּחֵ֥ם עַל־הָרָעָ֖ה לְעַמֶּֽךָ׃ 13זְכֹ֡ר לְאַבְרָהָם֩ לְיִצְחָ֨ק וּלְיִשְׂרָאֵ֜ל עֲבָדֶ֗יךָ אֲשֶׁ֨ר נִשְׁבַּ֣עְתָּ לָהֶם֮ בָּךְ֒ וַתְּדַבֵּ֣ר אֲלֵהֶ֔ם אַרְבֶּה֙ אֶֽת־זַרְעֲכֶ֔ם כְּכוֹכְבֵ֖י הַשָּׁמָ֑יִם וְכָל־הָאָ֨רֶץ הַזֹּ֜את אֲשֶׁ֣ר אָמַ֗רְתִּי אֶתֵּן֙ לְזַרְעֲכֶ֔ם וְנָחֲל֖וּ לְעֹלָֽם׃ 14וַיִּנָּ֖חֶם יְהוָ֑ה עַל־הָ֣רָעָ֔ה אֲשֶׁ֥ר דִּבֶּ֖ר לַעֲשֹׂ֥ות לְעַמּֽוֹ׃ פ

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Übersetzung

7 Da redete Jhwh zu Mose: „Auf, steige hinab, denn verdorben hat es dein Volk, das du aus dem Lande Ägypten heraufgeführt hast. 8 Sie sind schnell abgewichen von dem Weg, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein goldenes Kalb gemacht, sind vor ihm niedergefallen, haben ihm geopfert und gesagt: ‚Dies ist dein Gott, Israel, der dich aus dem Lande Ägypten heraufgeführt hat.‘“

9 Und Jhwh sprach zu Mose: „Ich habe dies Volk gesehen, und siehe: ein halsstarriges Volk ist es! 10 Jetzt aber, lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne, und dass ich sie fertigmache und ich dich zu einem großen Volk mache.“ 11 Da besänftigte Mose Jhwh, seinen Gott, und sprach: „Warum, Jhwh, entbrennt dein Zorn über dein Volk, das du aus dem Lande Ägypten herausgeführt hast mit großer Kraft und starker Hand? 12 Warum soll Ägypten sprechen: ‚Ins Unheil hat er sie herausgeführt, um sie zu töten in den Bergen und sie zu vertilgen vom Erdboden?‘ Wende dich doch ab von deiner Zornesglut und lass dich des Unheils für dein Volk gereuen. 13 Erinnere dich Abrahams, Isaaks und Israels, deiner Knechte, denen du bei dir selbst geschworen hast, als du ihnen zusagtest: ‚Mehren will ich eure Nachkommenschaft wie die Sterne des Himmels, und dieses ganze Land, von dem ich gesagt habe, ich werde es euren Nachkommen geben – sie sollen es für ewig besitzen.‘“

14 Da reute Jhwh das Unheil, das seinem Volk anzutun er gesprochen hatte.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

In der Wortverbindung עגל מסכה bezeichnet עגל die Gestalt des Kultbildes als „Kalb“ oder eher „Jungstier“ (vgl. etwa Jes 11,6; Jer 31,18). Das Lexem מסכה bezieht sich auf das Material bzw. seine Verarbeitungsart. Die Lexika und die Mehrzahl der Ausleger leiten es von der Wurzel נסך mit der Bedeutung „ausgießen“ ab und geben es mit „Gussbild“ wieder, hier also „gegossenes Kalb“. Alternativ dazu kann man מסכה von einer kanaanäischen Wurzel ableiten, die „schmieden“ bedeutet (vgl. Jes 40,19; 44,10). Jedenfalls bezeichnet מסכה eine metallene Schmiedearbeit. עגל מסכה wäre demnach mit „Jungstierfigur in Schmiedearbeit“ zu umschreiben. Da die handwerklich präzise Übersetzung jedoch keinen Verständnismehrwert hat, kann man die geprägte Übersetzung „Goldenes Kalb“ auch beibehalten.

2. Literarische Gestalt und Kontext

Die Erzählung vom Goldenen Kalb setzt ein mit der Darstellung des eigentlichen Geschehens in Ex 32,1–6. Dann wechselt der Schauplatz auf den Gottesberg, wo Gott Mose berichtet, was geschehen ist, und ihm gebietet, wieder zum Volk hinabzusteigen (32,7–8), was Mose in 32,15 auch tut. Dazwischen, in 32,9–14, ist eine Szene eingeschaltet, in der Gott zunächst erneut das Wort ergreift und Mose gegenüber die Vernichtung des Volkes androht (32,9–10) – in seiner ersten Rede hatte Gott noch keine Konsequenzen angekündigt. Daraufhin legt Mose „Fürbitte“ für das Volk ein (32,11–13), woraufhin Gott von der angekündigten Strafe absieht (32,14).

Der üblichen Kategorisierung als Fürbitte zum Trotz äußert Mose gegenüber Gott nicht einfach Bitten. Vielmehr argumentiert er für sein Anliegen und bringt dabei zwei Argumente vor.

  • Das erste bezeichnet man als argumentum ad Deum, d.h. Gott wird an sein Gottsein erinnert. Es wäre des Gottes Israels unwürdig, wenn er sein Volk aus Ägypten geführt hätte, nur um es anschließend ins Verderben zu führen.
  • Das zweite Argument bringt die Erzväter ins Spiel. Denen hat Gott verheißen, ihrer Nachkommenschaft das Land zu Besitz zu geben. Dieses Versprechen würde hinfällig, wenn Gott das Volk Israel vernichten würde.

Auffallend ist, dass Gott in seinem Zorn Israel in V. 7 als „dein (d.h. Moses) Volk“ und in V. 9 neutral als „dieses Volk“ bezeichnet. Mose akzeptiert das freilich nicht und spricht stets von „deinem (d.h. Gottes) Volk“ (V. 11.12). Am Ende ist es dann tatsächlich wieder „sein (d.h. Gottes) Volk“, das Gott verschonen will (V. 14). Ein wichtiges Motiv ist die Reue Gottes (V. 12.14): Die abschließende Erzählnotiz (V. 14) hält fest, Gott habe das Unheil, das er seinem Volk angedroht hat, „gereut“. Das hebräische נחם meint eigentlich „Selbstbeherrschung üben“ (vgl. etwa Am 7,3.6). Reue ist also noch nicht die endgültige Vergebung, sondern sie zügelt den akuten Zorn Gottes und gibt Gelegenheit zur Umkehr (vgl. dazu Jer 18,8; Joel 2,14; Jona 3,5 mit 4,2). Im Plot der Erzählung Ex 32–34 ist die „Reue Gottes“ als Aufschub gewährende Selbstbeherrschung essenziell. Wird es gelingen, den Aufschub zu nutzen und Gottes dauerhafte Wiederzuwendung herbeizuführen?

3. Historische Einordnung

Die Erzählung vom Goldenen Kalb hat zwei Fürbittenszenen. Die zweite (Ex 32,30–35) nimmt sehr konkret auf den Vorfall Bezug (V. 31) und benennt am Ende auch eine auf die Erzählsituation bezogene Konsequenz: die Hineinführung in das verheißene Land (V. 34). Die erste (32,9–14) jedoch lässt jeden konkreten Bezug auf die Erzählung vom Goldenen Kalb vermissen und redet über Israel ganz allgemein. Diese Szene könnte an jeder Stelle des Pentateuchs stehen. Und in der Tat findet sich in Num 14,11–25 ein ganz ähnliches Gespräch (Ex 32,9–10 || Num 14,11–12; Ex 32,11–12 || Num 14,13–17, vgl. auch Dtn 9,12–14). Die literargeschichtlichen Schlussfolgerungen sind klar: Die Szene Ex 32,30–35 gehört in die dtr Grundschicht der Erzählung vom Goldenen Kalb, die hier zur Rede stehende Szene Ex 32,9–14 ist demgegenüber eine späte, nachpriesterschriftliche Erweiterung, die den weitgehend fertigen Pentateuch schon voraussetzt und deswegen auf die Väterverheißungen des Buches Genesis Bezug nehmen kann; und zwar auf die Mehrungsverheißung in ihrer spätesten Gestalt mit dem Sternevergleich (Gen 15,5; 22,17; 26,4).

Gestützt wird diese Einordnung durch die Charakterisierung des Volkes als „halsstarrig“, die über den Abfall zum Goldenen Kalb hinausweist und mehrfach wiederholt wird, und zwar in anderen späten Texten des Exodusbuches (33,3.5; 34,9) sowie des weiteren Pentateuchs (Dtn 9,6.13). Ähnliche Charakterisierungen finden sich etwa in Ex 32,15; Dtn 32,5–6a; Ps 106.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Nun ist aber der Predigttext so abgegrenzt, dass er die Rede, mit der Gott Mose über den Vorfall in Kenntnis setzt, mit einbezieht (Ex 32,7–8). In der so definierten Perikope ist der Bezug auf das Goldene Kalb explizit vorhanden. Das ändert aber nichts an der generalisierenden Weiterführung. Ex 32,9–13 fördert mit der Allgemeinheit der Argumentation und der "Fürbitte" die immer wieder zu leistende Aneignung für spätere Adressaten. Das einmalige Vergehen wird umgedeutet zur steten Haltung („halsstarrig“). Die Sprechhaltung Moses, die sich nur in einem weiteren Sinne in die Gattung Gebet einordnen lässt, zeigt, dass die Rede zu Gott vielerlei Formen annehmen kann. Schließlich ist die in V. 14 geäußerte Reue Gottes kein Abschluss, sondern eröffnet vielmehr erst die Möglichkeit, dass Gott und Israel wieder zusammenkommen.

Literatur

  • Döhling, J.-D., 2009, Der bewegliche Gott. Eine Untersuchung des Motivs der Reue Gottes in der Hebräischen Bibel (HBS 61), Freiburg/Brsg.
  • Jeremias, J., ²1997, Die Reue Gottes. Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellung (BThSt 31), Neukirchen-Vluyn.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Exegese erläutert in erhellender Weise den Gesinnungswandel und die Reue Gottes durch die beiden von Mose vorgebrachten Argumente gegen eine Vernichtung des Volkes Israel. Zudem zeigt die von Wolfgang Oswald erstellte Übersetzung: Der Predigttext enthält einiges Irritationspotential. Wenn von einem Gott erzählt wird, der in Rage gerät und das Volk Israel, das er offenbar nicht mehr „sein Volk“ nennen mag, „fertigmachen“ will, zucken wir zusammen. Schreckliche Erinnerungen an andere Versuche, das Volk Israel „fertigzumachen“ und einer „Endlösung“ zuzuführen, werden wach. Aber auch der brutale Überfall Russlands auf die Ukraine, bei dem auch die Zivilbevölkerung nicht verschont, sondern gezielt ins Visier genommen wird. Und ja, auch die erschütternden Aussichten auf die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Zudem:

  • Wie soll auf der Kanzel von einem Gott gesprochen werden, der in Wut gerät und die Zerstörung seiner Menschen in die Tat umsetzen will?
  • Leidet Gott in der vorliegenden Erzählung unter fehlender Impulskontrolle?
  • Und warum mutet er seinen Wutanfall Mose zu und führt nicht stracks aus, was er im Sinn hat?

Mose fungiert hier als Berater Gottes. Oder genauer: als Anwalt Israels und Anwalt Gottes, insofern sein Gottsein mit der Existenz Israels steht und fällt. Das ist eine für unsere gängigen, systematisch ausdifferenzierten und aufgeklärt-zivilisierten Gottesbilder durchaus unübliche und unbequeme Vorstellung!

Nicht weniger erstaunlich ist die erwähnte Rolle Moses. Sie hat großes, gar übergroßes Gewicht! An Moses Plädoyer für Israel hängt dessen Existenz. Auch dieser Aspekt der Geschichte ist an sich schwer auszuhalten. Was wird hier einem Menschen, der zudem contre cœur in seine Führungsrolle gedrängt wurde, zugemutet? Kann ein Mensch eine solche Last tragen? Soll er es? Das dennoch Erbauliche an dieser Sequenz der Geschichte: Gott berät sich mit seinen Menschen und hört auf sie.

2. Thematische Fokussierung

In der Predigt könnte auf diese Rolle und die Agency des Menschen fokussiert werden. Dabei sind die irritierenden Seiten der Erzählung nicht auszublenden oder zu übertünchen. Sie gehören zur Geschichte, zur Bibel und, ja, auch zu unseren Erfahrungen. Aber auch die Rolle und das Plädoyer Moses gehören dazu. Und die damit verbundene Aussage: Gott berät sich mit seinen Menschen und lässt sich umstimmen. Er hört auf seine Menschen. Die Argumente Moses haben Gewicht bei Gott.

Das Plädoyer Moses als „Fürbitte“ zu bezeichnen, erachte ich mit Wolfgang Oswald als unpräzise und missverständlich. Moses hält hier nicht Fürbitte, sondern er fällt Gott in den Arm, er ruft ihn zur Räson. Er kühlt seinen Zorn ab durch plausible Argumente: Indem er Gott an seine Fürsorgepflicht für Israel und an seine Verheißungen an Abraham, Isaak und Jakob erinnert. Etwas weniger plausibel scheint mir die Warnung vor einem Imageschaden in Ägypten, falls dort die Vernichtung Israels durch seinen Gott ruchbar würde.

Das „Goldene Kalb“ würde ich in der Predigt nicht ins Zentrum stellen. Es ist Thema des vorangehenden Abschnitts und wird in unserer Perikope nur kurz erwähnt.

3. Theologische Aktualisierung

Eine Aktualisierung dieser insgesamt doch bemerkenswert widerständigen Perikope ist nicht einfach und soll es auch nicht sein. Das Widerständige und Fremde soll dem Text nicht genommen, der Stachel nicht gezogen werden. Im Gegenteil: Das Fremde und Widerständige haben das Potential, die Ambivalenzen unserer Erfahrungen mit uns selbst, mit unserer sozialen und natürlichen Umwelt und mit Gott in Erinnerung zu rufen und einer Bearbeitung zugänglich zu machen.

Vielleicht ist mit dem Begriff der Ambivalenz (vgl. dazu Dietrich u.a. 2009) noch zu wenig gesagt, die gegenwärtige Sachlage verharmlost. Ist es nicht angemessener, die abgründigen Krisen, mit denen wir derzeit konfrontiert sind und in denen wir stecken, auch auf der Kanzel unverblümt anzusprechen, in Augenschein zu nehmen und mit dem verzweifelten, führungslosen Israel in der Wüste, einem wütenden Gott und einem energischen und mutigen Mose ins Gespräch zu bringen? Stecken wir nicht in vielfältiger Weise in der Wüste fest, ohne realistische Aussicht auf eine heile Zukunft, orientierungslos, in vielerlei Hinsicht führungslos? Sind in dieser Situation der multiplen Krisen Gottes- und Menschenbilder, wie sie in unserer Perikope gezeichnet werden, nicht gerade passgenau und ermutigend? Ermutigend nicht primär in einem rationalen Sinn. Die Lage scheint in mehrfacher Hinsicht aussichtslos. Aber in einer Glaubensperspektive, die indes der Rationalität keineswegs entbehrt. Das Tröstliche, das Evangelium der Perikope liegt darin, dass Menschen im Rückblick auf die Überwindung einer fundamentalen Krise den Grund für diese Überwindung in einem dramatischen, emotional aufgeheizten Dialog zwischen Gott und Mose in Szene setzen, wobei dem Menschen – Mose – in dieser Szene das entscheidende Gewicht zukommt. Gute Argumente, die Erinnerung an Gottes Versprechen, Courage und die Solidarität mit „seinem Volk“ scheinen die Ingredienzen für dieses entscheidende Gewicht zu sein. Vielleicht mögen solch drastische Erzählungen in unserer drastischen Gegenwart bei der einen oder dem anderen etwas Hoffnung wecken.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Wir befinden uns in der Osterzeit. Es ist der zweitletzte Sonntag derselben, der mit Rogate bezeichnet wird. Die Stimmung des Textes ist indes keineswegs unbeschwert, sondern insgesamt düster. Zwar lässt sich eine Osterhoffnung festmachen, aber eine mit leisen Tönen und stark auf die aussichtslos scheinende Krise von Karfreitag bezogen. Es ist noch weithin unklar, wie es weitergehen wird mit denen, die dem Auferstandenen begegnet sind, und was die Auferweckung Christi für seine Anhänger:innen bedeutet. Führung und Kompass fehlen. Himmelfahrt und Pfingsten stehen noch aus. Wenn in der Predigt mit der Gemeinde über Moses Beschwichtigung Gottes, über sein Plädoyer für die Bewahrung Israels und seine vehemente Erinnerung an Gottes Verheißungen nachgedacht wird, könnten die Sprechakte des Plädoyers, der Erinnerung und – darüberhinausgehend – der Klage über die scheinbare Aussichtslosigkeit aktueller Krisenlagen durch passende Gesänge und Gebete Ausdruck verliehen werden.

Literatur

  • Dietrich, W. / Lüscher, K. / Müller, Chr. (Hg.), 2009, Ambivalenzen erkennen, aushalten und gestalten, Zürich.

Autoren

  • Prof. Dr. Wolfgang Oswald (Einführung und Exegese)
  • Prof. Dr. David Plüss (Praktisch-theologische Resonanzen)

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