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Micha 6,1-8 | 22. Sonntag nach Trinitatis | 27.10.2024

Einführung in das Buch Micha

Das Michabuch enthält viele wichtige Themen prophetischer Literatur von Sozialkritik bis zu Friedensvisionen. Es wird in letzter Zeit verstärkt nicht nur als einzelne Schrift, sondern auch in seinen vielfältigen Bezügen zum Zwölfprophetenbuch untersucht.

1. Wie ist das Michabuch strukturiert?

Das Michabuch ist geprägt von einem Wechsel von Unheils- und Heilstexten. Drei Höraufrufe – „Hört [doch]!“ – gliedern den Text (Mi 1,2; 3,1 und 6,1) in drei Teile (Mi 1–2; 3–5 und 6–7). Diese drei Abschnitte beginnen jeweils mit Unheilsworten (Gerichtsankündigungen) und gehen dann zu hoffnungsvolleren Aussichten (Heilsworten) über. Aufgrund des szenischen Charakters des Michabuches lässt es sich auch als dramatischer Text lesen (Helmut Utzschneider).

2. Wie ist das Michabuch entstanden?

Die Überschrift in Mi 1,1 schreibt das Buch Micha aus Moreschet (Gat; Mi 1,14), einem kleinen Ort 36 km südwestlich von Jerusalem im judäischen Hügelland, zu. Der Name Micha (oder in der Langform מיכיהו) ist ein häufiger Personenname. Er bedeutet „Wer ist wie JHWH?“ und zielt auf die Unvergleichlichkeit des Gottes Israels. Die Herkunftsbezeichnung als „Moraschiter“ zeigt, dass Micha auch außerhalb seines Geburtsortes bekannt war. Micha wird als Kritiker der gesellschaftlichen, politischen und religiösen Verhältnisse beschrieben. Mi 1,1 verortet die Erzählung in der Zeit der Könige Jotam, Ahas und Hiskia von Juda in der zweiten Hälfte des 8. Jh. v. Chr. Teile des Buches, v.a. in Mi 1–3*, gehen vermutlich auf diese Zeit zurück. Der Fall Samarias 722 v. Chr. durch die Assyrer und Sanheribs Feldzug im Jahr 701 v. Chr., bei dem er viele Städte in Juda eroberte, Jerusalem aber nicht einnahm, sind historische Ereignisse, die in Mi 1–3 anklingen. Auch wenn der größte Teil des Michabuches aus exilisch-babylonischer und nachexilisch-persischer Zeit stammt, ist es ihm offenbar wichtig, sich in diesen historischen Rahmen zu stellen und Micha als Zeitgenossen von Jesaja und Hosea zu präsentieren, bei denen zum Teil dieselben Könige genannt werden.

Die Entstehungsgeschichte des Michabuches ist eng mit der des Zwölfprophetenbuchs verbunden, v.a. mit Hosea und Amos. Die sozialen Missstände, die im Amosbuch im Norden, Israel, kritisiert werden, werden in der Michaschrift genauso im Süden, in Juda, beschrieben. Aber auch zu Jesaja und Jeremia gibt es zahlreiche Parallelen: Jes 26,18 zitiert Mi 3,12, und die Völkerwallfahrt zum Zion findet sich auch in Jes 2,2–5.

3. Wichtige Themen

Sozialkritik: Kritik an der Ausbeutung der Landbevölkerung durch ungerechtes Verhalten der herrschenden Eliten ist ein wichtiges Thema im Michabuch (v.a. in Mi 1–3 und 6,1–7,7): Reiche eignen sich Felder der Armen an und vertreiben sie aus ihren Häusern. Soziale Ungerechtigkeiten, Machtmissbrauch, Rechtsbeugung und Korruption werden konkret beim Namen genannt, die Verfasser:innen stellen sich eindeutig auf die Seite der Armen. Die Texte zeigen – ähnlich wie in Hosea und Amos – Ungerechtigkeiten auf und führen sie auf strukturelle Ursachen zurück. Das Michabuch lässt sich als „Oppositionsliteratur“ bezeichnen (Rainer Kessler): Die oppositionelle Haltung seiner Tradentengruppen zieht sich durch alle Epochen seiner Entstehung.

Gott als gerechter Richter und messianischer König: JHWH wird als der beschrieben, der gerechte Verhältnisse herstellen kann. Die messianische Vision eines Neubeginns von Bethlehem aus wird im Kontrast zum Versagen der Autoritäten in Jerusalem entworfen (Mi 5,1–4). Diese Vorstellung dient dazu, die Krise der Zerstörung Jerusalems und des babylonischen Exils theologisch zu verarbeiten. Der Berg Zion wird als neuer Sinai etabliert, von dem Erneuerung ausgeht. Die Völker werden zum Zion strömen und ihre Waffen in landwirtschaftliche Geräte verwandeln (Mi 4,1–5; „Schwerter zu Pflugscharen“).

Volk Gottes: Im Michabuch wird darüber verhandelt, wer Israel ist. Unterschiedliche Stimmen reflektieren darüber, was das Gottesvolk ausmacht. Verschiedene Bezeichnungen wie „Israel“, „Jakob“ und „mein Volk“ stehen im Kontext eines Diskurses um die Identität Israels, die vom Norden auf den Süden, Juda, übertragen wird. Das Volk Israel wird in seiner Vielfalt, in sozialen Spannungen, in seiner historischen Entwicklung und in seiner Beziehung zu seinem Gott beschrieben. Gleichzeitig wird das Verhältnis zu den Völkern thematisiert. Bereits zu Beginn des Buches (Mi 1,2) werden die Völker angesprochen, mit der Anrede an Berge und Hügel in Mi 6,1–2 sind universale Größen adressiert. Hier und mit der Völkerwallfahrt zum Zion oder der ethischen Weisung an „den Menschen“ (Mi 6,8) enthält das Michabuch Ansätze eines Modells für die Verhältnisbestimmung von Israel und den Völkern: Wie im Deuterojesajabuch kommen die anderen Völker in den Blick, aber der Weg der Völker zum Gott Israels führt immer über das Volk Israel, nicht an ihm vorbei.

Weibliche Metaphorik: Wie bei Jesaja, Jeremia und in den Klageliedern wird die Stadt Jerusalem oder ihre Bevölkerung als „Tochter Zion“ (Mi 1,13; 4,8.10.13) oder „Tochter Jerusalem“ (Mi 4,8) angesprochen. Die Stadt wird im Alten Orient häufig weiblich personifiziert. Religionsgeschichtlich lässt sich die weibliche Personifizierung der Stadt auf die westsemitische Tradition einer Stadtgöttin oder der Frau eines Schutzgottes der Stadt zurückführen. Die Personifizierung Jerusalems als Tochter Zion hebt die Beziehungsebene zwischen Gott, Volk und Stadt hervor, die gestört ist und wieder hergestellt werden soll. Die Tochter Zion wird mit starken Bildern sowohl als in Wehen gebärende Mutter (Mi 4,9-10) als auch als Kriegerin und Kämpferin im Auftrag JHWHs (Mi 4,13) dargestellt.

4. Besonderheiten

Das Michabuch ist geprägt von einem Wechsel von Unheils- und Heilstexten. Es ist eine Falle in der Interpretation, die Unheilstexte und die Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen dem biblischen Israel zuzuordnen, die Heilstexte, die Friedensvision und das Hoffnungsbild von einem messianischen Neuanfang, aber den Völkern. Historisch sind sowohl die Sozialkritik als auch die Hoffnungstexte an Israel im 8. bis 5. Jh. v. Chr. gerichtet. Gleichzeitig enthalten diese Texte ein Potenzial, das sich über ihren historischen Kontext hinaus lesen lässt: Auch wenn die Kritik an der Ausbeutung in der bäuerlichen Welt der Michaschrift kleinräumiger ist, verweist sie auf strukturelle Probleme, die auch in der globalisierten Wirtschaft des 21. Jh. n. Chr. nicht gelöst sind. Und die Hoffnungstexte enthalten einen Ausblick auf das Verhältnis zu den Völkern, aber dieses wird nicht an Israel vorbei entfaltet, sondern Israel bleibt erster Adressat dieser Visionen. Die Hoffnung auf umfassenden Frieden wirkt heute genauso utopisch wie in der wechselvollen Entstehungszeit des Michabuches.

Literatur:

  • Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha (ATD 24,3), Göttingen 2007.
  • Rainer Kessler, Micha (HThK.AT), Freiburg u.a. 1999.
  • Gabriele Metzner, Micha / Michabuch, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, Stuttgart 2007 (http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/27685/).
  • Helmut Utzschneider, Micha (ZBK.AT 24/1), Zürich 2005.
  • Burkard M. Zapff, Micha (IEKAT), Stuttgart 2020.

A) Exegese kompakt: Micha 6,1–8

Ausgehend von einem Rechtsstreit Gottes mit seinem Volk über die Erinnerung an zentrale Ereignisse in der Geschichte Israels werden im Text Grundsätze guten Lebens formuliert: Recht, Güte und besonnenes Mitgehen mit Gott.

1שִׁמְעוּ־נָ֕א אֵ֥ת אֲשֶׁר־יְהוָ֖ה אֹמֵ֑ר ק֚וּם רִ֣יב אֶת־הֶהָרִ֔ים וְתִשְׁמַ֥עְנָה הַגְּבָע֖וֹת קוֹלֶֽךָ׃ 2שִׁמְע֤וּ הָרִים֙ אֶת־רִ֣יב יְהוָ֔ה וְהָאֵתָנִ֖ים מֹ֣סְדֵי אָ֑רֶץ כִּ֣י רִ֤יב לַֽיהוָה֙ עִם־עַמּ֔וֹ וְעִם־יִשְׂרָאֵ֖ל יִתְוַכָּֽח׃ 3עַמִּ֛י מֶה־עָשִׂ֥יתִי לְךָ֖ וּמָ֣ה הֶלְאֵתִ֑יךָ עֲנֵ֥ה בִֽי׃ 4כִּ֤י הֶעֱלִתִ֨יךָ֙ מֵאֶ֣רֶץ מִצְרַ֔יִם וּמִבֵּ֥ית עֲבָדִ֖ים פְּדִיתִ֑יךָ וָאֶשְׁלַ֣ח לְפָנֶ֔יךָ אֶת־מֹשֶׁ֖ה אַהֲרֹ֥ן וּמִרְיָֽם׃ 5עַמִּ֗י זְכָר־נָא֙ מַה־יָּעַ֗ץ בָּלָק֙ מֶ֣לֶךְ מוֹאָ֔ב וּמֶה־עָנָ֥ה אֹת֖וֹ בִּלְעָ֣ם בֶּן־בְּע֑וֹר מִן־הַשִּׁטִּים֙ עַד־הַגִּלְגָּ֔ל לְמַ֕עַן דַּ֖עַת צִדְק֥וֹת יְהוָֽה׃ 6בַּמָּה֙ אֲקַדֵּ֣ם יְהוָ֔ה אִכַּ֖ף לֵאלֹהֵ֣י מָר֑וֹם הַאֲקַדְּמֶ֣נּוּ בְעוֹל֔וֹת בַּעֲגָלִ֖ים בְּנֵ֥י שָׁנָֽה׃ 7הֲיִרְצֶ֤ה יְהוָה֙ בְּאַלְפֵ֣י אֵילִ֔ים בְּרִֽבְב֖וֹת נַֽחֲלֵי־שָׁ֑מֶן הַאֶתֵּ֤ן בְּכוֹרִי֙ פִּשְׁעִ֔י פְּרִ֥י בִטְנִ֖י חַטַּ֥את נַפְשִֽׁי׃ 8הִגִּ֥יד לְךָ֛ אָדָ֖ם מַה־טּ֑וֹב וּמָֽה־יְהוָ֞ה דּוֹרֵ֣שׁ מִמְּךָ֗ כִּ֣י אִם־עֲשֹׂ֤ות מִשְׁפָּט֙ וְאַ֣הֲבַת חֶ֔סֶד וְהַצְנֵ֥עַ לֶ֖כֶת עִם־אֱלֹהֶֽיךָ׃ פ

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Übersetzung

1Hört doch, was JHWH spricht: Steh auf, führe einen Rechtsstreit mit den Bergen,

 die Hügel sollen deine Stimme hören!

2Hört, ihr Berge, den Rechtsstreit JHWHs, und ihr beständigen Grundfesten der Erde!

Denn JHWH hat einen Streit mit seinem Volk, und mit Israel diskutiert er.

3Mein Volk, was habe ich dir angetan, und womit habe ich dich ermüdet?

Sage gegen mich aus!

4Ich habe dich doch aus dem Land Ägypten heraufgeführt und aus dem Haus der Knechtschaft erlöst! Und ich habe Mose, Aaron und Mirjam vor dir her geschickt.

5Mein Volk, erinnere dich doch, was Balak, der König von Moab, geplant hat,

und was ihm Bileam, der Sohn von Beor geantwortet hat, von Schittim bis Gilgal,

um die gerechten Taten JHWHs zu erkennen!

6Womit soll ich vor JHWH treten, mich vor dem Gott der Höhe beugen?

Soll ich mit Brandopfern vor ihn treten, mit einjährigen Kälbern?

7Gefallen JHWH Tausende von Widdern, unzählige Ströme von Öl?

Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Verfehlung geben, die Frucht meines Leibes als Reinigungsopfer für mein Leben?

8 Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und was JHWH von dir fordert: nichts anderes als Recht zu tun, Güte zu lieben und besonnen mit deinem Gott zu gehen.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V. 1: Im Hebräischen steht zweimal die identische Wurzel ריב rîb: einmal, in V. 1, als Verb mit der Bedeutung „streiten“ oder „einen Rechtsstreit führen“ und einmal, in V. 2, als Nomen „Rechtsstreit“, das wie eine Überschrift über dem folgenden Text steht. ריב rîb kann Streit nicht nur in gerichtlichem Zusammenhang bedeuten, sondern auch allgemein: verbale (z.B. Gen 13,7; Ps 31,21) oder physische (z.B. Ex 21,18) Auseinandersetzung im zwischenmenschlichen Bereich. In Mi 6,2 wird der Streit zwischen JHWH und seinem Volk mit dem Verb וכח vkḥ hitp. („diskutieren“ / „sich auseinandersetzen“) eindeutig als verbaler klassifiziert.

V. 2: Die Berge werden als „beständige Grundfesten der Erde“ vorgestellt, d.h. säulenartige Stützen, die die Erde halten, aber auch über das Meer, das unter der Erde liegt, hinausragen und so Himmel und Erde verbinden. Der Streit „mit“ (את) den Bergen ist ungewöhnlich. Manche versuchen daher, diese Vorstellung zu vereinfachen: z.B. „vor“ den Bergen (Zürcher Bibel). Die Berge werden in jedem Fall personifiziert vorgestellt, als Gesprächspartner oder zumindest Zeugen im Gespräch.

V. 3: Während V. 2 suggeriert, dass JHWH Ankläger ist, verteidigt er sich in V. 3 als Angeklagter und antwortet aus einer Verteidigungshaltung heraus.

V. 6: כפף („sich beugen;“ nur hier im nifal) ist nicht nur das „sich Niederwerfen“ im Gebet, sondern Bedrückung durch Feinde (vgl. Ps 57,7). Als Bewegung vor dem „Gott der Höhe“ drückt das Verb eine besondere Unterwürfigkeit aus.

V. 8: Das Subjekt von נגד ngd hi. („sagen“ / „mitteilen“) wird nicht ausdrücklich genannt. Manche übersetzen daher unpersönlich: „Es ist dir gesagt“ oder „Man verkündete dir.“ Aus dem Folgenden ergibt sich, dass es nur JHWH sein kann, der hier spricht: „Er hat dir gesagt.“ Der letzte Teil der Forderung ist eine singuläre Formulierung, deren Bedeutung diskutiert wird: „besonnen“, „behutsam“ oder „demütig“ (צנע hi.) mit Gott gehen.

2. Literarische Gestaltung und Kontext

Mi 6,1–8 wird in V. 2 als „Streit“ JHWHs mit seinem Volk bezeichnet. Es ist eine Mischung aus Rechtsstreit und Lehrgespräch oder Disput. Der Text ist diskursiv in mehreren Argumentationsgängen gestaltet. V. 3–5 enthält Vorwürfe JHWHs an sein Volk, in denen er an zentrale Rettungstaten erinnert, V. 6–7 eine Reaktion auf diese Vorwürfe in Form von Fragen, die über Opfer nachdenken. V. 8 gibt grundsätzliche ethische Richtlinien.

V. 4–5 erinnern in einem Rückblick an wichtige Ereignisse in der Geschichte Israels, die zusammenfassend als צדקות ṣedaqôt („gerechte Taten“) JHWHs bezeichnet werden: In V. 4 erinnert JHWH in erster Person an die zentrale Befreiungstat, den Exodus: „Heraufführen“ (עלה ʻlh hifil) und „Erlösen“ (פדה pdh). Darüber hinaus wird an die fortgesetzte Leitung des Volkes erinnert. Es ist bemerkenswert, dass hier – anders als in den Erzählungen in Num 12; Jos 24,5; 1 Sam 12,8 – Mose als Geber der Tora, Aaron als Repräsentant des Priestertums und Miriam als Vertreterin der Prophetie gleichberechtigt nebeneinanderstehen. In V. 5 wird an die Bileamüberlieferung (Num 22–24) angespielt. Das „Antworten“ Bileams bezieht sich auf Num 22,18; 23,12.26. Schittim (Jos 3,1) und Gilgal (Jos 4,19) sind Orte am Anfang und am Ende der Landnahmeerzählung.

In V. 6–7 spricht eine einzelne Person und reflektiert über eine angemessene Opferpraxis. Die Opfer, die aufgezählt werden, sind übertrieben. „Einjährige Kälber“ wären eine Luxusvariante von Brandopfern, üblicher sind ein Stück Kleinvieh (Schaf oder Ziege) oder eine Taube (vgl. Lev 1). „Tausende von Widdern“ und „unzählige Ströme von Öl“ erinnern an legendenhafte Schilderungen von Opfern bei David, Salomo oder Hiskia (vgl. 1 Chr 29,21; 1 Kön 8,63), die deren königliche Macht illustrieren sollen. Dass zuletzt noch die menschliche Erstgeburt als Reinigungsopfer angeboten wird, ist der Höhepunkt dieser sich steigernden Aufzählung unrealistischer Opfer: Das Erstgeburtsrecht sieht vor, dass beim Menschen ein Ersatzopfer zu leisten ist (Ex 13,13; 34,20). Kinderopfer gelten als nicht-israelitisch und werden klar abgelehnt (Dtn 12,31; Lev 18,21).

Die zusammenfassende Schlussantwort in V. 8 gibt eine Richtlinie für ethisches Handeln: Das „Gute“ (טוב ṭôb) ist das Nützliche. Es wird mit der Forderung JHWHs gleichgesetzt. Der Auftrag, „Recht zu tun“, meint ein Verhalten, das sozialen Ausgleich und ein gerechtes Gemeinwesen für alle ermöglicht, und ist prophetisches Standardrepertoire (vgl. z.B. Am 5,15.24; Jer 5,1). „Güte“ / „Gnade“ / „Solidarität“ (חסד ḥæsæd) wird mit „Liebe“ verbunden. Gottes- und Nächstenliebe gehören zusammen. Abschließende Steigerung ist das besonnene Mitgehen mit Gott – als Konsequenz von Gottes Mitgehen mit dem Volk Israel seit dem Exodus (V. 4–5).

3. Literarischer Kontext und Historische Einordnung

Das Motiv vom Rechtsstreit JHWHs mit seinem Volk Israel kommt auch in anderen Texten der Hebräischen Bibel vor: Gott als gerechter Richter, der seinem Volk Recht verschafft, ist ein weit verbreitetes Motiv (vgl. z.B. Ps 7,9; Klgl 3,58–59). Die Variante, dass JHWH in diesem Rechtsstreit verschiedene Rollen einnehmen kann, und somit nicht nur als Richter, sondern auch als Ankläger und Verteidiger auftritt, begegnet z.B. bei Deuterojesaja, in Jes 43,26. Der Geschichtsrückblick in V. 4–5 setzt sowohl bei den Verfasser:innen als auch bei den Hörer:innen dieses Textes eine gewisse Vertrautheit mit der biblischen Tradition voraus. Die Fragen in V. 6–7 haben Anklänge an Tempeleinlassliturgien (Ps 15; 24,4–6). Auch das Nachdenken über das angemessene Verhältnis von Opfern und gerechtem Handeln passt in den Kontext ähnlicher Diskurse in Ps 40,7–9; Spr 21,3 in der Zeit des zweiten Tempels. Daraus ergibt sich eine Einordnung des Textes in nachexilisch-persische Zeit. Mi 6,8 erinnert an Dtn 10,12–13 und ist eine Zusammenfassung prophetischer Forderungen, die sich auch bei Amos, Hosea und Jesaja findet, aber hier im Michabuch doch in einer einzigartigen Formulierung. In den perserzeitlichen Diskursen über das Verhältnis zwischen JHWH und Israel vertritt dieser Michatext eine eigene Position: Er grenzt sich von einer priesterlichen Überbetonung eines Opferkultes genauso ab wie von deuteronomistischer Theologie, die die kollektive Schuld des Volkes betont. Stattdessen wird hier ein ausgewogenes Verhältnis dieser verschiedenen Facetten im Gottesverhältnis betont, das von gerechtem Verhalten und Solidarität sozial Schwachen gegenüber geprägt ist.

4. Schwerpunkte der Interpretation und theologische Perspektivierung

Der Text hat viele Facetten: ein Streit zwischen JHWH und Israel, Erinnerung an die Geschichte Gottes mit seinem Volk, ein Diskurs über Opfer und richtiges Verhalten. Er mündet in eine Formel, in der prägnant zusammengefasst wird, wie der Mensch leben soll. Aus der Parallele in den Formulierungen zu Dtn 10,12–13 ergibt sich, dass die einzelnen Gebote durch diese grundsätzliche Formulierung nicht aufgehoben, sondern in sie eingeschlossen sind. Auch Opfer werden nicht prinzipiell beendet, sondern unrealistische Opfer werden hinterfragt. Der Text ist an das nachexilische Israel gerichtet. Er enthält mit „Bergen“ und „Hügeln“ und der Anrede an den „Menschen“ Elemente, die eine Ausweitung über Israel hinaus andeuten. Elemente des Diskurses in Mi 6,1–8 klingen im Neuen Testament, in der Diskussion Jesu mit Schriftgelehrten über das höchste Gebot (Mk 12,28–34) an, wo auch die Zusammengehörigkeit von Gottes- und Nächstenliebe betont wird.

Aus heutiger Perspektive erweckt das Gespräch vielleicht den Eindruck, dass die beiden Gesprächspartner:innen aneinander vorbeireden. Diese Art des Diskurses, in dem unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen, lädt ein, selbst Antworten zu finden.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

„Hört!“, mit dieser Aufforderung werden die Prophetenworte des Michabuches strukturiert. Und tatsächlich bleibt diese Aufforderung im Ohr, egal welcher Abschnitt des Prophetenbuches zur Lesung, zur Verkündigung herangezogen wird. Das Hören gehört zur Grundhaltung des prophetischen Daseins. Der Prophet hängt vom Sprechen Gottes ab. Das Schweigen Gottes bedeutet das Ende prophetischer Rede.

Gott selbst ergreift im Rechtsstreit mit seinem Volk Israel das Wort. Es geht darum, wie der Weg vom Unheil zum Heil gegangen werden kann. Der Streit, die Argumentation wird vor aller Welt geführt. Die Völker selbst werden zu Hörenden. Die Geschichte des Volkes Israel mit seinem Gott findet in vielen Details Erwähnung. Sie wird mit Stichworten angetippt, ohne sie weiter auszuführen. Das setzt eine gewisse Kenntnis der Geschichte Israels voraus. In der Argumentation Gottes wird an die Rettungstaten Gottes erinnert. Sie stehen für Gottes gerechtes Tun. Wenn in V. 8 der Mensch gemahnt wird, Recht zu tun, so hat dieses Tun Gottes gerechte Taten zum Vorbild. Mose, Aaron und Mirjam stehen für die Gabe der Tora, für die priesterlichen und die prophetischen Traditionen, die sich in Wüstenzeiten bewährt haben. Die Landnahmezeit findet mit Bileam und den Orten Schittim und Gilgal Erwähnung. Das sind wichtige Wegmarken in der Geschichte Israels, die Antwort geben auf die ungestellte Frage des Volkes: Woher kommen wir? Und wohin geht die Reise weiter? Die prophetische Rede will orientieren. Es geht um eine Glaubens- und Lebenspraxis, die durch Orientierung und Ansprache an die Völker sowie deren Mithören, Mitdenken und Mittun Zukunft schafft.

Die Gedanken über eine angemessene Opferpraxis bestimmen die ersten Überlegungen. Inwieweit trägt die Opferpraxis zu einer Neuorientierung bei? Und inwieweit müssen nachfolgende Generationen mit ihren eingeschränkten Lebensmöglichkeiten Opfer bringen und für die Verfehlungen vorangegangener Generationen einstehen? Gerade in der Diskussion um die Nachhaltigkeit gesellschaftlichen Handelns hat diese Frage auch eine praktische Relevanz bis ins 21. Jahrhundert hinein.

Allerdings wird gerade in diesem Streitgespräch nach einer neuen Position gesucht, die sich von jeglicher Vereinseitigung abgrenzt. Die Gabe der Tora, die prophetische und die priesterliche Praxis stehen gleichberechtigt nebeneinander.

„Es ist dir gesagt“ – das Subjekt wird in V. 8 zwar nicht benannt, doch hinter der unklaren Formulierung ist die Fülle der Gotteserzählung erkennbar. Ähnlich der goldenen Regel und dem Doppelgebot der Liebe wird die Gesamtheit der Gotteserzählung in V. 8 formelhaft zusammengefasst. Gott sucht beim Menschen (adam) Antwort. Mi 6,8 fordert den Menschen als Hörenden, Mitgehenden, Handelnden und Suchenden.

Die exegetischen Betrachtungen haben den Wechsel von Heils- und Unheilsworten beim Propheten Micha herausgestellt. Mi 6,1–8 appelliert an die Würde und die Handlungsfähigkeit des Menschen. Hören, Tun und Gehen in Beziehung zu Gott, so führen Gottes und Menschenwege in die Zukunft.

2. Thematische Fokussierung und theologische Aktualisierung

Der Rechtsstreit Gottes mit seinem Volk zielt auf die Glaubens- und Lebenspraxis einschließlich der Opfer. Gott kommt seinem Volk mit seinem befreienden Handeln, der Bewahrung in der Wüstenzeit bis hin zur Landnahme zuvor. Alle großen jüdischen Traditionen (Haggada, Halacha und Midrasch) im Umgang mit Schrift, Gottesbezug und Lebensführung werden in dieser Zeit verankert.

Während im Bibeltext der Bezug auf die Tradition selbstverständlich ist und nur über das Wie des Glaubens und der Lebenspraxis diskutiert wird, stehen für uns heute häufig Gottesbezug und Glaube überhaupt in Frage. Manchmal ist von Patchworkglauben, bzw. einem unbewussten Glauben die Rede. Seltener wird ein Glaube, der sich einer bestimmten Tradition verdankt und verpflichtet fühlt. Eine Klärung der eigenen Traditionen mit ihren Gotteserzählungen und unserer eigenen Gottesbeziehung ist aber wichtig, weil wir daraus Orientierung und Glaubwürdigkeit im eigenen Handeln erlangen.

„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist.“ Das Gütesiegel Gottes, das den Schöpfungswerken Gottes anhängt, soll auch das menschliche Tun leiten. Was gut ist, muss uns mit allen Teilen der Schrift, der Tora, den Geschichtswerken, dem Gottesdienst und den Propheten, immer wieder neu gesagt werden. Das Hören entspricht der Grundhaltung des Menschen.

Alltag und Alltagswelt werden gestaltet mit der Forderung nach Zuständen, in denen dem Menschen Recht geschieht, auf die er auch ein Recht hat. Das menschliche Tun soll soziale Ungerechtigkeiten ausgleichen und sich an einem gerechten Gemeinwesen orientieren.

Die zweite Forderung in V. 8 betrifft die Menschenfreundlichkeit, die das Leben reicher und schöner macht. Die Liebe (chesed) entzieht sich der Verpflichtung. Sie hat etwas Überschießendes, Verschwenderisches und nicht Erwartbares. Sie bereitet den Boden zu einer menschenfreundlichen Resonanz.

Als drittes wird das demütige Mitgehen mit Gott gefordert. Bescheiden, besonnen, demütig – es gibt verschiedene Versuche für die Übersetzung, die die Qualität der Fortbewegung beschreiben. Das Gehen schließt an die gemachten Wüstenerfahrungen an, an die Traditionen, die sich in dieser Zeit herausgebildet haben und bleibt doch in seiner Art einzigartig. Hier liegt einmal nicht der Ton darauf, dass Gott mit uns geht, sondern wir im Bewusstsein der unterschiedlichen Schrittlängen mit Gott unterwegs sind. Korrektur und Orientierung erfahren wir immer wieder im Innehalten und Hören.

3. Bezug zum Kirchenjahr

Der 22. Sonntag nach Trinitatis steht in unmittelbarer Nachbarschaft zum Reformationstag. Das Ende des Kirchenjahres ist eingeläutet. Und ganz ähnlich dem weltlichen Gebaren wird bilanziert, wird gefragt, was das Jahr eingebracht hat. Mit dem Blick auf das Ende des Jahres / das Ende des Lebens / das Ende der Welt wird auch der Themenzusammenhang von Schuld und Vergebung relevant. Vergebung, die einen angemessenen Umgang mit Schuld darstellt, gehört zu einer überzeugenden Glaubenspraxis. Dabei stehen Gottes Vergebung und menschliches Vergeben in einem engen Zusammenhang. Es wird ein weiter Bogen gespannt von der Benennung der Schuld und deren Vergebung bis hin zum Neuanfang. Dabei kommt es darauf an, nicht an einem Punkt zu verweilen, sondern bis zur Freude über die Erlösung den Weg zu durchschreiten. Das Wegmotiv ist also bereits liturgisch mit den zum Proprium des Sonntags gehörenden Texten vorgegeben.

Der Erzengel Michael mit Schwert und Waagschale begleitet schon seit dem 29. September das Geschehen. Und Micha 6,8, quasi die Quintessenz der Predigtperikope, hat schon als Wochenspruch am 20. Sonntag nach Trinitatis das Thema der folgenden Woche bestimmt.

Fremd ist der Blick auf das Beziehungsleben des Menschen in Gottes-, Menschen- und Weltsicht also keineswegs. In unserem säkularisierten Umfeld besteht die Gefahr der Verharmlosung bzw. Tabuisierung von Schuld. Anstelle der Einübung in Vergebung und Neuorientierung ersparen sich manche eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Schuldverhältnissen. Manchmal werden diese durch eine Ablehnung von Verantwortung und Schuldzuweisungen an Dritte überspielt.

4. Anregungen

„Was tun?“ So hat Lenin eine seiner Programmschriften überschrieben.

„Was tun?“ Das fragen sich alle, die Verantwortung für sich und andere, die Verantwortung für ihr Leben und für die Gemeinschaft, für die Gesellschaft und für die Kirche, für unser Miteinander in dieser Welt von Geschöpfen, Geschöpftem und Schöpfer übernehmen.

Sollte sich also die Predigt von dem Duktus eines Parteiprogramms oder eines Hirtenwortes inspirieren lassen? Wahrscheinlich kommt diese Form des Sprechens nur bei einigen wenigen an. Und dennoch geht es um ein konkretes Tun. Was ist heute zu tun?

Das Weltgericht prägt ikonographisch die Eingangsportale der gotischen Kirchen. Christus sitzt thronend als Weltenrichter im Zentrum des Tympanons. Schwert und Lilie sind ihm als Attribute beigelegt: das Schwert für Recht und Gerechtigkeit und die Lilie zum Zeichen der Gnade und Freundlichkeit. Beides sind notwendige Instrumente der Gottesherrschaft im Weltgericht. Unter Schwert und Lilie gehen die einen in den Schoß Abrahams ein und die anderen durch die Pforten der Hölle.

Das Hören auf Gott und Gehen mit Gott bringt einen Perspektivwechsel mit sich. Gott gibt Orientierung, und das stellt das eigene Wissen, Wollen und Wirken in den göttlichen Bezugsrahmen.

Literatur

  • Nico ter Linden, Es wird erzählt… Fluch über Babel. Von den Visionen und Verkündigungen der Propheten, Gütersloh 2002.
  • Liturgische Konferenz für die Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.), Perikopenbuch, Leipzig 2018.
  • Studium in Israel e.V. (Hrsg.), Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe V, Wernsbach 2012.

Autoren

  • Prof. Dr. Marianne Grohmann (Einführung und Exegese)
  • Cornelia Reuter (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500067

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