Matthäus 11,2-10 | 3. Advent | 17.12.2023
Einführung in das Matthäusevangelium
Das MtEv
1. Verfasser
Das MtEv ist, wie alle neutestamentlichen Evangelien, anonym verfasst. Die Zuschreibung an Matthäus ist handschriftlich seit dem Ende des 2./Beginn des 3. Jh.s bezeugt; die älteste patristische Bezeugung stammt aus dem weitgehend verlorenen Werk des kleinasiatischen Bischofs Papias von Hierapolis. Nach ihm „hat Matthäus die Logien (Jesu) also in hebräischer Sprache zusammengestellt; es übersetzte sie aber jeder, so gut er konnte“ (Eusebius, h.e. III 39,16; Irenäus spricht von seinem „Evangelium in schriftlicher Form“, s. Adv. haer. III 1,1). Die Zuschreibung eines Evangeliums an den Apostel Matthäus bezieht sich in den ältesten Quellen jedoch nur auf das behauptete hebräische/aramäische Original. Für die vorhandene griechische Fassung wurde schon von Hieronymus festgehalten, dass der Übersetzer unbekannt ist (Vir.ill. III 1). Ohne auf die Übersetzungsfrage einzugehen, wurde das MtEv bis lange ins 19. Jh. hinein und mit nicht wenigen Vertretern bis heute als Werk des Apostels u. ehemaligen ‘Zöllners’ Matthäus angesehen. In der deutschsprachigen Forschung wird dagegen mehrheitlich ein unbekannter judenchristlicher Verfasser angenommen, der zwischen 80 und 100 das Evangelium auf der Grundlage älterer Quellen (Mk, Q, Sondergut) geschrieben hat. Die internationale u. nichtprotestantische Forschung ist in dieser Frage allerdings deutlich pluraler als die deutschsprachige Einleitungswissenschaft und Kommentarliteratur. Eine wichtige Rolle spielt in beiden exegetischen Traditionen die singuläre Referenz in der Jüngerliste Mt 10,3 (Matthäus der Zöllner), die erkennbar und absichtsvoll auf die Berufung des Zöllners Matthäus 9,9–13 (der in den Parallelen Mk 2,13–27; Lk 5,27–32 Levi heißt, woraus in der Tradition Matthäus-Levi wurde) zurückverweist. Dies wird weithin als Referenz auf den intendierten (oder eben tatsächlichen) Verfasser verstanden. Die Apostolizität – verstanden in einer Weise, dass wesentliche Teile des Inhalts auf Überlieferungen aus dem Zwölferkreis, repräsentiert durch Matthäus, zurückgehen – kann so in Einklang mit der frühchristlichen Tradition trotz des relativ späten Entstehungsdatums des kanonischen (= griechischen) MtEv vertreten werden.
(Mt 9,9-13; Mk 2,13-17)
(Mt 9,9-13; Lk 5,27-32)
(Mt 9,14-17; Lk 5,33-38)
(Mt 12,1-8; Lk 6,1-5)
(Mk 2,13-17; Lk 5,27-32)
2. Adressaten
Das Evangelium selbst enthält keine direkten Hinweise auf Adressaten, Abfassungszeit oder -ort. Alle diesbezüglichen Aussagen sind aus dem vorliegenden Text abgeleitet und angesichts deren Spärlichkeit entsprechend hypothetisch. Die patristischen Autoren berichten, dass Matthäus das Evangelium für die „Hebräer“ (d.h. die jüdischen Jesusgläubigen in Israel) schrieb, bevor er „zu den anderen Völkern“ gehen wollte (Eusebius, h.e. III 24 6). Die Annahme, dass das Evangelium ursprünglich an überwiegend judenchristliche Gemeinden gerichtet war und in deren Kontext entstanden ist, wird auch heute mehrheitlich vertreten. Nur wenige machten und machen sich für einen heidenchristlichen Ursprungskontext stark. Allerdings gibt es auch hier eine starke, insbesondere englischsprachige Forschungstradition, die solche Partikularadressierungen ablehnt und stattdessen von einer von Anfang an universalen Adressatenschaft ausgeht („The Gospel For All Christians“). In der deutschsprachigen Evangelienforschung dominiert dagegen ein Partikular- und Konfliktmodell, nach dem die einzelnen Evangelien an bestimmte Gemeindegruppen adressiert sind und sich dabei gleichzeitig von den Empfängergruppen der anderen Evangelien mehr oder weniger polemisch absondern. Der Zuweisung des MtEv an ein judenchristliches Milieu impliziert darum oft die Abgrenzung gegenüber anderen frühchristlichen Milieus (repräsentiert u.a. durch Paulus oder das MkEv, das Mt angeblich verdrängen oder ersetzen wollte). Damit wird das MtEv in erster Linie zu einem Zeugnis für die angenommene Konfliktgeschichte innerhalb des frühen Christentums zwischen 70 und 100, und die in ihm vermittelten Jesustraditionen gelten als so ausgewählt bzw. reformuliert, dass sie der Selbstvergewisserung dieser besonderen Gruppe dienten (die manche mit den Apg 15,5 genannten christlichen Pharisäern verbinden). Alternativ kann man im MtEv, basierend u.a. auf seiner breiten Rezeptionsgeschichte seit dem 2. Jh. in den geographisch sehr verschiedenen Milieus des frühen Christentums und im Hören auf die patristischen Traditionen, ein in seinen Anfängen apostolisches Zeugnis sehen, dessen griechische Endgestalt das Mk- und möglicherweise auch das LkEv bereits voraussetzt. In diesem Fall stellt es die abschließende synoptische Stimme im neutestamentlichen Kanon dar, in der die Verkündigung von Jesus im Kontext einer „kerygmatischen Biographie“ (so Martin Hengel) einschließlich ihrer fortlaufenden Formatierung bis ungefähr zum Jahr 85–90 enthalten ist.
3. Entstehungsort
Aufgrund der judenchristlichen Charakteristika wird häufig eine Entstehung in Antiochien vermutet, was dadurch gestützt wird, dass Bischof Ignatius von Antiochien das MtEv schon im 1. Drittel des 2. Jh.s zu kennen scheint. Aber auch andere Orte in Israel bzw. Syrien werden diskutiert. Mt 4,24f. beschreibt den unmittelbaren geographischen Radius von Jesu Wirksamkeit (und damit einen möglichen ersten Adressatenkreis), aber das Evangelium selbst lässt keinen Zweifel an seiner universalen Perspektive (24,9.14; 26,13; 28,18–20), die sich zudem in der wiederholten Erwähnung von nichtjüdischen Personen als Empfängern der guten Botschaft konkretisiert (Mt 1,5; 2,1; 8,5–13.28–34; 15,21–28; 27,54).
(Mk 7,24-30)
Die Weisen aus dem Morgenland
(Lk 7,1-10; Joh 4,46-53)
(Mk 5,1-17; Lk 8,26-37)
4. Wichtige Themen
Wichtige Themen der exegetischen Interpretation sind die Christologie (Jesus als Sohn Davids neben der Menschensohn-Christologie), Soteriologie (Vergebung der Sünden als Zielvorgabe von Jesu Wirken [1,21] und als Vollendung [26,28: nur Mt verbindet die Worte vom Bundesschluß im Abendmahl
(Mk 12,38-40; Lk 20,45-47; 11,39-52)
(Lk 13,34-35)
Vom Hausbau
Vom Almosengeben
5. Besonderheiten
Das MtEv enthält eine Vielzahl klar abgrenzbarer Einheiten, die in sich deutlich strukturiert sind, insbesondere durch Dreiergruppen (vgl. 1,17, wo diese Struktur sogar benannt wird) oder „chiastische Ringkompositionen“ (U. Luz). Dagegen fehlt eine erkennbare Gesamtstruktur, indem der Aufbau insgesamt eher schlicht ist: Als Auftakt die Genealogie als Brücke in Israels Geschichte und die Kindheitsgeschichte als Erfüllungsgeschehen (vier der insgesamt 12 bzw. 13 Erfüllungszitate sind in Kapitel 1–2, beginnend mit 1,22: τοῦτο δὲ ὅλον γέγονεν ἵνα πληρωθῇ τὸ ῥηθὲν „Dieses alles aber ist geschehen, damit erfüllt werden würde, was gesagt worden ist durch …“, vgl. außerdem 2,15.17.23; 4,14; 8,17; 12,17; 13,14.35; 21,4; 26,56; 27,9), daran anschließend das Wirken in Galiläa, und ab 16,21 eine zunehmende Fokussierung auf Jerusalem
(Mk 8,31-33; Lk 9,22)
(Mk 8,31-33; Lk 9,22)
(Mk 14,1–16,20; Lk 22,1–24,53; Joh 13,1-38; 18,1–21,25)
(Mk 10,1-12)
(Lk 7,18-23)
Literatur:
- Meyers KEK: Ernst Lohmeyer, Das Evangelium des Matthäus. Nachgelassene Ausarbeitung und Entwürfe zur Übersetzung und Erklärung. Für den Druck erarbeitet u. hg. v. W. Schmauch, KEK-Sonderband, Göttingen 41967.
- Aktueller Kommentar: Matthias Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015 (theologisch gehaltvolle Auslegung, aber kaum Hinweise auf Literatur; diese findet sich reichlich verarbeitet in dem Band: Matthias Konradt, Studien zum Matthäusevangelium, WUNT 358, Tübingen 2016).
- Grundlegend: Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/1-4, Neukirchen-Vluyn u.a. 1985 (5., völlig neubearbeite Aufl. 2002), 1990, 1997, 2002 (umfassendster Kommentar in deutscher Sprache mit ausführlichen Hinweisen zur Auslegungs- und Wirkungsgeschichte).
- Zur Diskussion um die Tora: R. Deines, Jesus and the Torah according to the Gospel of Matthew, in: The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, hg. v. M. Seleznev, W. R. G. Loader u. K.-W. Niebuhr, WUNT 459, Tübingen 2021, 295–327 (in diesem Band auch weitere Aufsätze zu dem Thema, so dass die verschiedenen Positionen gut erkennbar sind).
- Angelsächsische Literatur und Auslegungsgeschichte: Ian Boxall, Matthew Through the Centuries, Wiley Blackwell Bible Commentaries, Hoboken: Wiley Blackwell, 2019.
A) Exegese kompakt: Matthäus 11,2-10
Wenn Zweifel auf Gewissheit trifft
Vom Zweifel des Johannes zur Gewissheit des Evangelisten
Übersetzung
Da Johannes im Gefängnis von den Werke des Messias hörte, sagte er durch seine Jünger, die er geschickt hatte: „Bist du ›der Kommende‹, oder erwarten wir einen anderen?“ 4 Als Antwort sagte Jesus zu ihnen: „Geht, berichtet Johannes, was ihr hört und seht: 5 Blinde sehen wieder und Lahme gehen umher, Aussätzige werden rein und Gehörlose hören und Tote wachen auf/werden auferweckt (Medium oder Passiv!) und Armen wird gute Nachricht verkündigt – 6 und selig ist. wer (wörtlich: „wenn er“) nicht durch mich/an mir zu Fall kommt. 7 Nachdem diese gegangen waren, begann Jesus zu der Menge über Johannes zu reden: „Um was zu bestaunen seid ihr in die Wüste hinausgegangen? Ein Schilfrohr, vom Wind bewegt? 8 Aber um was zu sehen seid ihr hinausgegangen? Einen Menschen eingehüllt in weiche (Kleider)? Siehe (Merkt/Wisst ihr nicht), die die weiche (Kleider) tragen sind in den Häusern der Könige. 9 Um was also zu sehen seid ihr hinausgegangen? Einen Propheten! Ja, sage ich euch, und mehr als einen Propheten. 10 Dieser ist, über welchen geschrieben worden ist: Siehe, ich sende meinen Boten vor deinem Angesicht her, welcher deinen Weg herrichten wird vor dir.
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
V.2 „Im Gefängnis (ἐν τῷ δεσμωτηρίῳ)“: Eigentliche Gefängnisse
Zedekia befragt heimlich den Propheten
V.3 ὁ ἐρχόμενος/der Kommende: Über einen Kommenden nach ihm spricht der Täufer
Dankbares Bekenntnis zur Hilfe Gottes
„Werke des Messias“ (τὰ ἔργα τοῦ Χριστοῦ): Offenkundig sind die Anklänge der sechs Zeichen an Jes 29,18f.; 35,5f.; 26,19 und 61,1f. Dass solche messianischen Zeichenlisten auf biblischer Grundlage frühjüdisch bezeugt sind, zeigt der viel diskutierte Qumrantext 4Q521 (s. Lit.). Dennoch ist umstritten, ob es konkrete Vorstellungen über besondere Werke des Messias
Die frohe Botschaft von der kommenden Herrlichkeit
Sprachlich fällt auf, dass die drei Paare von Aktivformen zu Passivformen wechseln, d.h. die göttliche Urheberschaft (passivum divinum) wird subtil eingeführt, erstmals beim dritten „Werk“, den Aussätzigen, die „gereinigt werden“ (vgl. 2Kön 5,7: das ist etwas, das nur Gott tun kann). Das erste Paar ist aktivisch formuliert, das zweite Paar hat ein passives und ein aktives Verb, das dritte Paar (Totenerweckung und Evangeliumsverkündigung) nur Passivformen (wobei die erste auch medial interpretiert werden kann).
ὃς ἐὰν μή („der, wenn er nicht“ oder „unter der Bedingung, dass“): das ist ein Relativsatz (eingeleitet mit dem Relativpronomen ὅς) mit konditionalem Nebensinn (ἐάν = wenn, vgl. H.v.Siebenthal, GGNT §290e), d.h. nur wenn der Inhalt des zweiten Satzteils gegeben ist (das Nichtanstoßnehmen an Jesus), dann gilt auch der Vordersatz (die Seligpreisung).
V.4 „Berichtet … was ihr hört und seht“ (ἀπαγγείλατε… ἃ ἀκούετε καὶ βλέπετε): Diese Wendung verweist auf die vorangegangenen Kapitel. Die Bergpredigt (Mt 5–7
(Mk 1,40-44; Lk 5,12-14)
(Lk 7,1-10; Joh 4,46-53)
(Mk 1,29-34; Lk 4,38-41)
(Lk 9,57-60)
(Mk 4,35-41; Lk 8,22-25)
(Mk 5,1-17; Lk 8,26-37)
(Mk 2,1-12; Lk 5,17-26)
(Mk 2,13-17; Lk 5,27-32)
(Mk 2,18-22; Lk 5,33-38)
(Mk 5,21-43; Lk 8,40-56)
Die Heilung zweier Blinder und eines Stummen
Die große Ernte
V.6 Das Verb σκανδαλίζω (Anstoß/Ärgernis erregen/bereiten), eine Kausativform von τὸ σκάνδαλον (Falle, Anstoß, Ärgernis), ist in der jüdischen Literatur und der nichtbiblischen Gräzität selten. Im NT ist sie dagegen häufig, die meisten Belege finden sich bei Matthäus. Dieser führt mit σκανδαλίζειν in 11,6 ein neues semantisches Geflecht ein (vor 11,6 nur einmal in 5,29f.), indem er Jesus als den über das Heil entscheidenden Anstoß benennt. Bei Mt hat das Verb als Objekt (= das Anstoß erregende Element) die „Botschaft“ (λόγος) von Jesus (13,57; 15,12) bzw. die durch sie verursachte Verfolgungssituation (13,21; 24,10, vgl. auch 26,31.33), die verhindern, dass Menschen in das Reich Gottes eingehen; zu den „Anstößen“ (σκάνδαλα), die sich Menschen untereinander bereiten und die den Eingang ins Reich Gottes verhindern s. Mt 18,6–9. In 16,23 ist es Petrus, der für Jesus zum „Anstoß“ wird, indem er ihn vom Weg ans Kreuz abzuhalten versucht. Alle Kontexte (bis auf 17,27) verweisen damit auf das eschatologische Heil.
(Mk 9,42-48; Lk 17,1-3a)
Die Ankündigung der Verleugnung des Petrus
V.9 Die meisten Übersetzungen haben ein Fragezeichen nach Prophet, aber damit wird die Pointe verpasst. Die beiden ersten Fragen zielen auf die falsche Antwort: der Täufer ist kein Rohr im Wind (wohl metaphorisch für jemand, der den Menschen nach dem Mund redet und sich von der öffentlichen Meinung bewegen lässt) – das wussten die Menschen, genau darum kamen sie ja zu ihm; der Täufer ist auch kein Mensch in weichen Kleidern, sondern trägt die Kleidung eines Propheten, speziell die des Elias
V. 10 Das atl. Zitat findet sich fast identisch auch in Mk 1,2 (da Jesaja zugeschrieben) und Lk 7,27. Es steht allerdings in dieser Form nicht im AT:
(Mt 3,1-12; Lk 3,1-18; Joh 1,19-27)
- der erste Teil (von ἰδοὺ bis προσώπου σου) entspricht dem exakten griech. Wortlaut von Ex 23,20 u. mit leichten Änderungen (und einer Auslassung) auch Mal 3,1.
- Der zweite Versteil entspricht dagegen keinem dieser beiden Texte, sondern variiert das Motiv von der Vorbereitung eines Weges/einer Bahn für Gottes Kommen, das sich in Mt 3,3 bezogen auf die Aufgabe des Täufers findet (wobei Jes 40,3 zitiert wird).
Mahnungen und Verheißungen
Vom Kontext her ist Mal 3,1 der primäre Bezugstext: denn da geht es um das Kommen Gottes zum Gericht, das von Elia vorbereitet werden soll (Mal 3,23). Der Täufer wird hier als dieser zweite Elia vorgestellt (ausdrücklich in Mt 11,14). Seine Aufgabe ist es, das Volk zur Begegnung mit Gott vorzubereiten.
2. Literarische Gestalt und Kontext
1. Der literarische Kontext:
Mt 11 leitet im Aufbau des ersten Evangeliums eine Wende ein: seit 4,17 wirbt Jesus im Volk für seine Botschaft vom nahe gekommenen Himmelreich, indem er verkündigt (Mt 5–7