Jesaja 62,1-5 | 4. Advent | 24.12.2023
Einführung in das Jesajabuch
1. Verfasser
Der Kern des Jesajabuches geht auf den gleichnamigen Propheten zurück, der im 8. Jahrhundert v. Chr. in Jerusalem wirkte. Spätestens die Kapitel ab Jes 40 werden aber einem zweiten Propheten zugerechnet, den man Deuterojesaja nennt. Bernhard Duhm hat in seinem Kommentar von 1892 alle Kapitel ab Jes 56 einem dritten Propheten, also Tritojesaja, zugeschrieben. Die klassische Jesajathese geht also von Protojesaja
Des Herrn tröstendes Wort für sein Volk
Israels unvergleichlicher Gott
Die Gemeinde Gottes wächst über ihre Grenzen
Klage über die Hirten des Volkes
Im Zuge der redaktionsgeschichtlichen Forschung des 20. Jahrhunderts ist der Kernbestand bei allen drei Teilen teilweise auf wenige Kapitel geschrumpft. Der Großteil wird späteren Ergänzern, Fortschreibern oder Redaktoren zugewiesen. Das hat zwei Folgen:
- Zum einen kann man nur einen kleinen Teil der Schrift „mit Sicherheit“ dem Propheten Jesaja oder Deuterojesaja zuweisen, während der überwiegende Teil des Buches Jesaja von unbekannten Redaktoren etc. verfasst wurde.
- Zum anderen gibt es eine stärkere Orientierung am „Sitz im Buch“, d.h. man kann die Texte meist nicht einem ganz bestimmten Zeitpunkt zuweisen, dafür aber die Stelle, in der der Text vorkommt, aus dem Buch heraus begründen.
Die Texte des Jesajabuches sind keine zufällige Sammlung von Einzelworten, sondern eine – wie auch immer geartete – Komposition oder bewusste Gestaltung. Auch die nicht redaktionsgeschichtliche Forschung erkennt im Jesajabuch bewusste und absichtliche Gestaltung, wobei auch in diesem Fall die Verfasser der Texte unbekannt sind.
2. Adressaten
Der Prophet Jesaja scheint ursprünglich ein Prophet gewesen zu sein, der mit dem Königtum verbunden war. Im Laufe der Geschichte wurden die Propheten, die Königsmacher und Propheten im Dienste des Königs waren, zur Opposition stilisiert, die Kritik am Königtum und am Volk äußerte. Der Adressat von Jes 6–8
Nach klassischer Sicht waren die Worte der Propheten dabei Aussprüche, die von ihnen selbst oder Schülern gesammelt worden waren und dann herausgegeben wurden. Dabei nahm man eine öffentliche Verkündigung an („Sitz im Leben“). Die jüngere Forschung deutet demgegenüber das Buch und die einzelnen Texte als schriftgelehrte Fortschreibung („Sitz im Buch“), die einen überschaubareren Leserkreis hatte.
3. Entstehungsort
Der Kern des ersten Teils des Jesajabuches ist in Jerusalem
Für Deuterojesaja hat man eine Entstehung im babylonischen Exil
Für eine Entstehung in Jerusalem spricht, dass es im Kern Deuterojesajas um die Wiedergewinnung Jhwhs für Jakob-Israel geht. Das Gericht und das Exil nehmen mit Kyros ein Ende, weil Babylon
Des Herrn tröstendes Wort für sein Volk
Zions künftige Herrlichkeit
Die frohe Botschaft
4. Wichtige Themen
Zion
Gottes Gericht zur Läuterung Jerusalems
Annahme und Verwerfung
Neuer Himmel und neue Erde
Falscher Gottesdienst
Heil und Gericht
Gott verheißt Gnade und Erbarmen für alle Zeit
Zions künftige Herrlichkeit
In Zion finden alle Völker Heil und Frieden
Literatur:
- Becker, U., 2022, The Book of Isaiah. Its Composition History, in: Lena-Sofie Tiemeyer (Hg.), The Oxford Handbook of Isaiah, Oxford, 37–56.
- Steck, O.H., 1992, Zion als Gelände und Gestalt. Überlegungen zur Wahrnehmung Jerusalems als Stadt und Frau im Alten Testament, in: ders., Gottesknecht und Zion. Gesammelte Aufsätze zu Deuterojesaja, FAT 4, Tübingen, 126–145.
Einführung Tritojesaja
Tritojesaja
Für die Entstehungszeit muss man die nachexilische Zeit annehmen. Die Septuaginta-Übersetzung
Literatur
- Berges, U., 2022, Jesaja 55–66. Übers. und ausgelegt, HThK.AT, Freiburg i. Br..
- Kratz, R.G., 2002, Art. Tritojesaja, in: TRE 34, 124–130.
- Steck, O.H., 1991, Studien zu Tritojesaja, BZAW 203, Berlin/New York.
- Zapff, B., 2006, Jesaja 56–66, NEB.AT 37, Würzburg.
A) Exegese kompakt: Jesaja 62,1-5
Wann wird Gottes Versprechung wahr?
Übersetzung
1 Zions wegen schweige ich nicht,
Jerusalems wegen bin ich nicht ruhig,
bis seine Gerechtigkeit hinausgeht wie ein Strahl,
und sein Heil wie eine brennende Fackel.
2 Und die Völker werden deine Gerechtigkeit schauen,
und alle Könige deine Herrlichkeit.
Und du wirst genannt werden mit einem neuen Namen,
den der Mund Jhwhs festgesetzt hat.
3 Und du wirst die Krone der Herrlichkeit in der Hand Jhwhs sein,
und der Königsturban wird in der Hand deines Gottes sein.
4 Nicht wird man mehr zu dir sagen „Verlassene“
und zu deinem Land wird man nicht mehr sagen „Verwüstet“,
denn dich wird man nennen „Mein Gefallen ruht auf ihr“
und dein Land „In Besitz genommen“,
denn Jhwh hat an dir Gefallen gefunden
und dein Land ist in Besitz genommen.
5 Denn wie der Bräutigam die Jungfrau heiratet,
so werden dich deine Söhne in Besitz nehmen,
und wie der Bräutigam wegen seiner Braut jubelt,
so wird deinetwegen dein Gott jubeln.
1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung
V. 3: צְנִיף מְלוּכׇה – Königsturban (Gesenius18 z. St.)
V. 5: Der Vers spielt mit den unterschiedlichen Wortbedeutungen bzw. -kontexten von בעל „herrschen, in Besitz nehmen; zur Frau nehmen, heiraten“. Die Vergleiche in diesem Vers erschließen sich nur aus dem Zusammenhang, normalerweise werden sie mit כַּאֲשֶׁר undכֵּן konstruiert.
2. Literarische Gestalt und Kontext
Dieses Heilswort versichert Zion
Zions Gerechtigkeit und Heil
3. Historische Einordnung
Jes 62 ist der Abschluss von Jes 60–62
Zions Gerechtigkeit und Heil
Das wahre Israel
Das Danklied der Erlösten
(vgl. Kap 42,1-4; 49,1-6; 50,4-9)
(vgl. Kap 42,1-4; 49,1-6; 52,13–53,12)
(vgl. Kap 42,1-4; 50,4-9; 52,13–53,12)
(vgl. Kap 49,1-6; 50,4-9; 52,13–53,12)
Zions künftige Herrlichkeit
Die frohe Botschaft von der kommenden Herrlichkeit
Jes 62 ähnelt dabei sehr stark Jes 49,14–52,3*
4. Schwerpunkte der Interpretation
Das sogenannte, aber auch umstrittene dreigliedrige eschatologische Schema, das sich noch am besten in Ezechiel und Jesaja nachweisen lässt, verkündet nach dem Unheil für das eigene Volk und dem Unheil für die Fremdvölker dem eigenen Volk eine neue, glorreiche Zukunft. Deuterojesaja sieht in der Eroberung Babylons und dem Eroberer Kyros (Jes 45,1f.) eine neue Zeit angebrochen, die Heil für Jerusalem bedeutet (Jes 44,28). Das Geschick Zions/Jerusalems bestimmt dann auch die zweite Hälfte Deuterojesajas und die Kernkapitel Jes 60–62
5. Theologische Perspektivierung
In diesem Text wird der endgültige Wandel von Zions/Jerusalems Geschick angesagt, eine Wende um 180 Grad. Zion ist nicht mehr von Jhwh verlassen (Jes 49,14), ihr Land nicht mehr verwüstet, sondern beides von ihren Söhnen wieder in Besitz genommen (Jes 62,5). War die Zerstörung Jerusalems und die Wegführung ins Exil der Tiefpunkt der Geschichte Israels mit Jhwh, so redet dieser Text von einer neuen, anderen, guten kommenden Zeit.
Da laut Jes 62,1 das alles anscheinend noch nicht eingetreten ist, lässt sich frech auch von einer Parusieverzögerung sprechen: Das Heil für Zion ist noch nicht erschienen!
Dass Zion/Jerusalem hier ein endgültiges Heil verkündet wird, mündet später in die Erwartung eines neuen Jerusalems, das vom Himmel auf die Erde herabkommt (vgl. Apk 3,12). Das neue Jerusalem ist damit mehr als eine Stadt, sondern Veranschaulichung von Gottes neuer Schöpfung.
B) Praktisch-theologische Resonanzen
1. Persönliche Resonanzen
Die Exegese bestärkt die Wahrnehmung, dass der Predigttext zwar kohärent und aus sich selbst heraus verständlich ist, dass aber eigentlich erst die Einbindung in den großen Erzählzusammenhang des Jesajabuches und seine Textgeschichte eine angemessene Auslegung ermöglicht. D. h. um seinen Sinn zu erschließen, braucht es den weiten erzählerischen Horizont des Buches und darüber hinaus gehende intertextuelle Perspektiven, aus denen sich Motive herleiten und in denen thematische (theologische, historische) Akzente erkennbar und plausibel werden. Das betrifft etwa die Klagetexte, in denen Jerusalem als Witwe oder verlassene Mutter bezeichnet wird (z. B. Klgl 1,7-11), die Texte, in denen Jerusalem als abtrünnige, ehebrecherische Frau Jahwes angeklagt wird Texte (z. B. Hos 2,4-15) – bis hin zu den Heilsankündigungen wie hier in Jes 62,4f., die Zion als Braut Jahwes und geachtete Mutter vieler Kinder ansprechen. Damit reiht sich die Predigt als weiterer Schritt (in zeitlich viel größerem Abstand und ohne kanonischen Anspruch) in eine Auslegungspraxis ein, die bereits innerhalb der Prophetenbücher beginnt und überlieferte Texte situationsbezogen immer neu aktualisiert. Ein – zugegeben: ziemlich pädagogisch-hermeneutisches und damit allenfalls sekundäres – Anliegen der Predigt könnte es sein, bei den Hörer:innen auch ein Bewusstsein zu wecken für eben diese Einsicht: dass die biblischen Texte schon innerhalb der Bibel in veränderten Situationen neu gehört und aktualisierend kommentiert wurden. Gottes Wort wurde immer als Wort für die jeweilige Zeit gehört. Das heißt auch: zu bestimmten Zeiten anders gehört. Und das ist erhaben über jeden Vorwurf, das Wort der Schrift dem Zeitgeist anzupassen.
Gott zieht das treulose Israel zur Rechenschaft
2. Thematische Fokussierung
Die Exegese rückt den Predigttext in den Horizont des Jesajabuches und sachlich in den Kontext der Geschichte des Alten Israel. Damit rückt sie ihn freilich erst einmal in Distanz zu uns, unserer Lebenswelt und unserem Lebensgefühl – so kurz vor Weihnachten allzumal.
Mit dem Berg Zion als religiösem Kultort und der Stadt Jerusalem als politisch-religiöser Metropole sind geographische und symbolische Koordinaten aufgerufen, die uns mitteleuropäischen Menschen nur mittelbar vertraut sind: aus Nachrichtenmeldungen, als Reiseerfahrungen mit 2000 Jahren Zeitdifferenz, oder als kulturhistorische Phänomene. Eine politisch und religiös umkämpfte Stadt im Visier rivalisierender Machtansprüche, mit nachhaltig labilen Friedensperspektiven, Gott sei’s geklagt. Aber Jerusalem ist eben nicht Berlin oder Brüssel. Damit bleibt vieles von dem, was der Bibeltext an politischen Implikationen und politischer Sehnsucht bietet, nur in einem abgeleiteten Sinn nachvollziehbar. Die Hoffnung, die aus Jes 62 spricht – dass aus dem verlassenen Jerusalem und dem zerstörten Tempel eine glänzende Gottesstadt wird, das in alle Welt ausstrahlt, und die neu in Besitz genommen, d. h. wiederbesiedelt wird von ihren Söhnen, also von der aus der Zerstreuung gesammelten Bevölkerung – ist in ihrem ungebrochenen Universalismus bzw. Zentralismus nicht unproblematisch. Vor allem aber steht sie in heftigem Kontrast zu allem, was aus Geschichte und Gegenwart über diesen Ort zu sagen ist (vgl. Joseph Croitoru, Al-Aqsa oder Tempelberg. Der ewige Kampf um Jerusalems Heilige Stätten, München 2021).