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Galater 4,4-7 | Christvesper | 24.12.2023

Einführung in den Galaterbrief

Im Corpus Paulinum nimmt der Gal durch den in ihm sich spiegelnden tiefgreifenden Konflikt zwischen Paulus und den galatischen Gemeinden eine Sonderstellung ein. Zu den nach wie vor intensiv diskutierten Problem- und Fragekomplexen gehören seine Datierung und die Lokalisierung der Empfänger, das theologische Profil der paulini­schen Kontrahenten, der Ausdruck „Werke des Gesetzes“, die Abraham-Thematik.

1. Verfasser und Entstehungsort

Der Brief lässt im Unklaren, wann er geschrieben wurde. Die Schwankungsbreite sei­ner chronologischen Einordnung reicht von 48/49 n.Chr. bis 55/56 n.Chr. Orientiert man sich an Paulus selbst, ist eine Spätdatierung sehr wahrscheinlich.

(a) In 1Kor 16,1 weist er die Korinther an, bei der Kollekte so zu verfahren, wie er es in Galatien „ange­ordnet“ hat. Aufgrund der dort ebenfalls noch ungeregelten Modalitäten kann dies erst vor kurzem geschehen sein, vielleicht während des zweiten Aufenthalts in den Gemein­den (Apg 18,23). Zur Abfassungszeit des 1Kor war ihre Beziehung noch ungetrübt. Wenn Paulus in Gal 2,10 betont, er sei den auf dem Jerusalemer Apostelkonvent einge­gangenen Verpflichtung für die „Armen“ voll und ganz nachgekommen, setzt er die in 2Kor 8f dokumentierten Bemühungen zur Sammlung der Kollekte voraus. Dies lässt da­rauf schließen, dass der Gal später datiert als die korinthische Korrespondenz.

(b) Auf­fällig ist die Nähe zum Röm. Enge Berührungen zeigen sich im Aufbau, an dem in Röm 3,19–4,25 und 8 aufgenommen Gedankengang des Gal und der nur in ihnen entfalteten Rechtfertigungslehre. Ist der Röm im Gal in Grundzügen vorgebildet, kann dessen zeit­licher Abstand nicht groß sein. Da Paulus den Röm Anfang bis Mitte des Jahres 56 n.Chr. während des letzten Korinthbesuchs (Apg 20,2, vgl. Röm 16,1f.23) geschrieben hat, liegt eine Datierung des Gal 55/56 n.Chr. nahe.

2. Adressaten

Als Empfänger kommen Gemein­den in der Landschaft Galatien (Zentralkleinasien/“Anatolien“) oder im provinzgalatischen Süden in Betracht. Aller­dings ist mehr als fraglich, ob die klassische Begründung der sog. Landschaftshypothese leistet, was sie soll. Grade die beiden Argumente, auf die sie sich primär stützt – zum einen die Briefadresse „den Gemeinden der Galatia“ (1,2), zum anderen die vorwurfs­volle Anrede „O ihr unverständigen Galater“ (3,1) –, tragen für sie nichts aus. Denn den antiken Quellen zufolge (Strabon, Plinius d.Ä., Pausanias) waren die Einwohner in den urbanen Zentren Nordgalatiens in paulinischer Zeit keineswegs mehr Galater im eth­nisch definierten Sinn. Gewichtet man die jeweils angeführten Argumente Pro und Contra, erscheint die in der angloamerikanischen Exegese fast unisono vertretene sog. Provinzhypothese auch in ihrer modifizierten Form (Meiser) am plausibelsten.

3. Wichtige Themen

Vieles spricht dafür, dass es sich bei den in Galatien aktiven Fremdmissionaren um toraobservante Judenchristen handelt. Mit ihrer Kritik an Paulus haben sie die Gemein­den überzeugt und für sich gewonnen. In der Briefsituation stehen diese im Begriff, auf die an sie herangetragenen Forderungen einzugehen: Vollzug der Beschneidung (5,2f.6; 6,12f), Einhalten des jüdischen Festkalenders (4,9f) und, wie der Rückblick auf den an­tiochenischen Konflikt (2,11–14) zu erkennen gibt, der Speise- und Reinheitsgebote. Erst wenn sie die rituellen Identitätsmerkmale des Judentums übernehmen, so wurde ih­nen bedeutet, seien sie Abrahams Nachkommen und seine Verheißungserben. Zwar stimmten die Fremdmissionare mit Paulus überein, dass Völkerchristen in den Bund Gottes mit Israel aufgenommen werden können. Beschneidung und prinzipiell auch To­ra-Gehorsam galten ihnen aber als unabdingbare Voraussetzungen. Ganz offensichtlich verstanden sie das von ihnen propagierte „Evangelium“ (1,6fin) als ein notwendiges Korrektiv zum paulinischen Evangelium, weil es für sie Entscheidendes vermissen ließ. Ihm fehlte die jüdische Signatur. Doch meinten sie wohl, auf der Erstmission aufzubau­en und den aus ihrer Sicht defizitären Heilsstand der Galater im Sinne des in der Tora Gebotenen zu „vollenden“ (3,3). Woher sie kamen, wird nicht gesagt. Die mehrfach an­geschnittene Jerusalem-Thematik (1,17–19; 2,1–10; 4,25, vgl. 2,12) könnte aber darauf hindeuten, dass die paulinischen Opponenten in einer wie immer gearteten Verbindung zur Jerusalemer Gemeinde gestanden haben.

In Gal 2,16 stellt Paulus erstmals den inneren Zusammenhang von Glaube und Recht­fertigung heraus. Damit schreibt er allein dem Glauben zu, was die Fremdmissionare in ihrer doppelt strukturierten Heilskonzeption auch dem Gesetz zuschreiben. Für sie wird der Mensch aus Glauben und aufgrund von „Werken des Gesetzes“ gerechtfertigt. Die Frage, ob der im NT nur im Gal (2,16 [3 mal]; 3,2.5.10) und Röm (3,20.28) begegnende Ausdruck „Werke des Gesetzes“ sich auf Handlungen bezieht, die in Erfüllung der Tora getan werden, oder Vorschriften meint, die in der Tora stehen und befolgt werden sol­len, oder aber die Gesamtheit aller Rechtsforderungen in der Tora bezeichnet, ist sicher nicht pauschal zu beantworten. Für Paulus ist es jedoch völlig unerheblich, ob seine Kontrahenten halachische Rigoristen sind oder sich mit einem Minimalprogramm be­gnügen (vgl. 5,3). Maßgeblich ist vielmehr, dass ihr Beharren auf der prinzipiellen Gül­tigkeit der Tora und damit die Integration des Christus-Glaubens in eine jüdische Iden­tität unvereinbar ist mit dem bereits im Briefeingang zur Sprache gebrachten zentralen Inhalt des Evangeliums: „Jesus Christus, der sich selbst für unsere Sünden dahingege­ben hat, um uns herauszureißen aus der gegenwärtigen bösen Weltzeit nach dem Willen Gottes, unseres Vaters“ (1,3f). Auch in ihrem reduzierten Programm sieht Paulus die „Wahrheit des Evangeliums“ (2,5.14, vgl. 4,16; 5,7) im Kern preisgegeben.

4. Besonderheiten

Gut möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich ist, dass die im Brief eine dominieren­de Rolle spielende Abraham-Thematik von den Fremdmissionaren eingebracht worden ist. Sie war geeignet, ihre Position zu stärken. Um Kinder Abrahams zu sein und dem auserwählten Gottesvolk anzugehören, müssten sich die Galater wie er und seine männlichen Nachkommen (Gen 17,9–14.23–26; 21,3f) der Beschneidung unterziehen. Paulus entwindet seinen Gegnern dieses Argument, indem er ihnen andere Teile der bi­blischen Abraham-Erzählung entgegenhält (3,6–9). Zunächst verweist er auf Gen 15,6 (LXX): „Es ist wie bei Abraham: ‚Er glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet‘“, und folgert daraus. „Die aus Glauben – (nur) die sind Abrahams Kinder“ (V.7). Anschließend kombiniert er Gen 12,3 mit 18,18 („In dir werden alle Völker ge­segnet werden“ [V.8]) und zieht das Fazit: „Also werden die aus Glauben mit dem gläu­bigen Abraham gesegnet“ (V.9). Eben darum geht es Paulus in der aktuellen Problem­situation. Mit seinem argumentativen Rückgriff auf die Schrift schärft er den völker­christlichen Galatern ein, dass sie nicht durch die Übernahme der Beschneidung an der Erwählung Abrahams teilhaben, sondern schon aufgrund ihres Glaubens an Jesus Chris­tus, den Nachkommen Abrahams (3,16).

Literatur:

  • Klaiber, W., Der Galaterbrief, Die Botschaft des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2013.
  • Eckstein, H.-J., Christus in euch. Von der Freiheit der Kinder Gottes, Göttingen 2017.
  • Keener, C.S., Galatians. A Commentary, Grand Rapids 2019.
  • Meiser, M., Der Brief des Paulus an die Galater, ThHK 9, Leipzig 2022.

A) Exegese kompakt: Galater 4,4-7

4ὅτε δὲ ἦλθεν τὸ πλήρωμα τοῦ χρόνου, ἐξαπέστειλεν ὁ θεὸς τὸν υἱὸν αὐτοῦ, γενόμενον ἐκ γυναικός, γενόμενον ὑπὸ νόμον, 5ἵνα τοὺς ὑπὸ νόμον ἐξαγοράσῃ, ἵνα τὴν υἱοθεσίαν ἀπολάβωμεν. 6Ὅτι δέ ἐστε υἱοί, ἐξαπέστειλεν ὁ θεὸς τὸ πνεῦμα τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ εἰς τὰς καρδίας ἡμῶν κρᾶζον· αββα ὁ πατήρ. 7ὥστε οὐκέτι εἶ δοῦλος ἀλλ’ υἱός· εἰ δὲ υἱός, καὶ κληρονόμος διὰ θεοῦ.

Galater 4:4-7NA28Bibelstelle anzeigen

Übersetzung

4 Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, dem Gesetz unterworfen,

5 damit er die dem Gesetz Unterworfenen freikaufe, damit wir die Sohnschaft erlangen.

6 Weil ihr Söhne seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der ruft: Abba, Vater.

7 So bist du kein Sklave mehr, sondern Sohn. Bist du aber Sohn, dann auch Erbe durch Gott.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V.4a Die Zeitangabe ὅτε δὲ ἦλθεν τὸ πλήρωμα τοῦ χρόνου bildet die Antithese zu ὅτε ἦμεν νήπιοι (V.3b). In V.4a ist nicht in einem tieferen theologischen Sinn von der „Fül­le der Zeit“ schlechthin die Rede (vgl. etwa Mk 1,15), sondern vom Ende der befristeten Zeit der Unmündigkeit.

V.5 Die zwei einander koordinierten Finalsätze beziehen sich chiastisch auf die Sen­dungsaussage von V.4b zurück. Der erste referiert speziell auf die zweite attributive Be­stimmung γενόμενον ὑπὸ νόμου, der zweite auf das Sendungsmotiv insgesamt: „Gott sandte seinen Sohn ..., damit wir die Sohnschaft empfingen“. Beide ἵνα-Sätze beschrei­ben Ziel und Folge der Sendung des Sohnes.

V.6 Zu „weil“ für ὅτι vgl. Röm 6,15; 9,7.32; 1Kor 2,14; 3,13; 10,17; 2Kor 11,7.11.

2. Einordnung in den Kontext

Gal 4,4–7 ist Teil des ersten Beweisgangs (3,1–5,12) für die in 2,16 formulierte Hauptthese. 4,4 erläutert, was in 3,23–25 (bevor der Glaube kam/bis Christus/als der Glaube kam) nur angedeutet war. Das in 4,1.7 aufgenommene Stichwort „Erbe“ aus 3,29 legt einen Ring um 4,1–7 und schlägt als Zielpunkt des steigernd angeordneten Kettenschlusses Sklave – Sohn – Erbe den Bogen über 3,29 und 3,18 („Erbe“) zur Aus­gangsfrage 3,2b.5b zurück. Inhaltlich knüpfen die V.4f an 3,13f an und kommentieren bzw. explizieren sie. Der engere Kontext (3,1–29) und seine thematische Verflechtung mit 4,(1–3)4–7 zeigen, dass nach dem formelhaften „Ich meine aber“ (V.1a) kein neuer Gedankengang, sondern eine weitere Illustration des zuvor Gesagten folgt. Unglücklich ist die Abtrennung der V.1–3, da sie mit ihrer Bildmetaphorik ein integraler Bestandteil von 4,1–7 sind.

3. Leitfaden der Interpretation

Textpragmatisch hat 4,(1–3).4–7 die Funktion, den Galatern ihren jetzigen Heilsstand mit Hilfe eines Beispiels aus dem Erb- und Vormundschaftsrecht zu verdeutlichen. Bis zu dem von seinem Vater festgesetzten Termin des Erbantritts befindet sich der Erbe, obwohl de jure schon Herr über alles, noch unter Kuratel und unterscheidet sich darin nicht von einem Sklaven (V.1f). Tertium ist die ihren jeweiligen Status kennzeichnende Unfreiheit.

In V.3 wird das Bild auf die Sachebene übertragen, verbunden mit einem Tempuswechsel („so waren auch wir“), der den inzwischen erfolgten Statuswechsel in­diziert und zu erkennen gibt, worauf Paulus mit dem Vergleich hinaus will: Gott hat vormals unter Fremdherrschaft Stehende durch die Sendung seines Sohnes aus diesem Dauerzustand befreit, damit sie in die Sohnschaft eingesetzt und seinem Sohn Jesus Christus gleichgestellt würden (4f). Der Ton liegt wie in 3,19.23–25 auf dem Kontrast zwischen „einst“ und „jetzt“. Beide Epochen zäsuriert ein „Kommen“, das des verhei­ßenen Nachkommen (3,19c), des Glaubens (3,23a.25a) und der erfüllten Zeit (4,4a). Es qualifiziert die Zeit nach dem „vom Vater festgesetzten Termin“ als Zeit der Mündig­keit, in der das Verheißene (3,6–9.14.18.22.29) für die Glaubenden Wirklichkeit ge­worden ist.

In V.6 werden Sohnschaft und Geistbesitz als untrennbare Einheit miteinan­der verkoppelt. Resultiert aus der Sendung des Gottessohnes die Sohnschaft der Chris­ten, so aus ihrer Zugehörigkeit zu ihm auch die Begabung mit seinem Geist, der in ih­nen wohnt (vgl. Röm 8,9.11) und sie befähigt, wie Jesus (Mk 14,36) Gott als „Abba, Vater“ anzurufen. Das Eine ist mit dem Anderen gegeben, nicht etwas die Folge davon oder seine Voraussetzung. Weil sie Söhne sind, wohnt Christi Geist, d.h. Christus selbst (Gal 2,20), in den Herzen der an ihn Glaubenden.

V.7 nimmt die entscheidenden Begrif­fe „Söhne (Kinder) Gottes“ (3,26) und „Erben“ (3,29) wieder auf, jetzt allerdings wegen der ad personam gerichteten Anrede („Du“) im Singular. Gegenüber 3,26–29 enthält der Vers nichts eigentlich Neues. Er zieht die Folgerung aus der Anwendung des Beispiels auf die Adressaten (4,6). Zugleich formuliert er die Quintessenz des bisherigen Argu­mentationsgangs (3,6–29) und stellt fest, was zu beweisen war. Negativ gesprochen: Christuszugehörigkeit und also Gottessohnschaft heißt, nicht länger einem Dritten in Sklavenmanier zu dienen. Positiv gesagt: Der Glaube an Christus, den Nachkommen Abrahams, rechtfertigt und macht die Glaubenden aus den Völkern (3,8fin.14) zu le­gitimen Nachkommen und Erben Abrahams.

4. Hermeneutischer Nachtrag

Die erste Näherbestimmung der Sendungsaussage γενόμενον ἐκ γυναικός („geboren von einer Frau) entspricht dem hebräischen Ausdruck jelûd ’iššah („der Weibgeborene“), der den Menschen in seiner Sterblichkeit und Vergänglichkeit im Blick hat (Hi 14,1; Sir 10,18; 1QS 11,21; 1QH 13,14f; 18,12f). Gal 4,4c ist deshalb weder ein Zeugnis für noch ein Zeugnis gegen die Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria. Ob das in den 2. Arti­kel des Apostolischen Glaubensbekenntnis aufgenommene „natus ex Maria virgine“ zu den unaufgebbaren, weil theologisch denknotwendigen Dogmen der Kirche gehört, kann nur aufgrund dogmatischer Überlegungen entschieden werden.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Exegese ist heilsam ernüchternd, indem sie deutlich aufzeigt, dass die Perikope zunächst nicht weihnachtlich konnotiert ist. Die „erfüllte“ Zeit, der gesandte Sohn, das „Geboren von einer Frau“ sind zunächst nicht auf das Kind in der Krippe bezogen, sondern entstammt einem anderen (Argumentations-)Kontext. Die Zuordnung der Perikope zur Christvesper verdankt sich weniger exegetischen Einsichten als wohl eher einer Stichwortassoziation. D.h. die Verbindung des Textes zu Weihnachten ist nicht intrinsisch gegeben, sondern ist eine Aufgabe und muss predigend hergestellt werden.

2. Thematische Fokussierung

Der thematische Fokus liegt für mich auf dem Gegensatz von Knechtschaft und Freiheit, wie er anschließend seinen Ausdruck in Gal 5,1 findet: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ Auf diese Statusfeststellung und den daraus folgenden Apell läuft auch der Knecht vs. Kind-Vergleich aus Gal 4, 4ff zu. Das „weihnachtliche“ Motiv wurde dabei traditionell darin gefunden, dass es die Sendung des Sohnes („geboren von einer Frau“) ist, die die Gläubigen zu freien Kindern („Söhnen“) macht.

Das Interesse in der Perikope liegt aber weniger auf den heilsgeschichtlichen Ereignissen der Vergangenheit als vielmehr auf der Freiheit in der Gegenwart (Präsenz in V. 6+7 und direkte Anrede V.7). Befreit sind die Gläubigen nicht nur vom „Gesetz“ und dessen Vorschriften, sondern auch von der Knechtschaft der „Mächte der Welt“ (4,3 und 4,9). Ausdruck und Bestätigung der Freiheit ist der jetzt in den Gläubigen wirksame Geist. Dieser lässt sie Gott als Vater anrufen.

3. Theologische Aktualisierung

Die aktuelle Gegenwart (Sommer 2023) zeichnet sich durch eine tiefe Ambivalenz aus: einerseits das Gefühl des Dauerkrisenmodus (allgemein: Klimakrise, Corona, Krieg in der Ukraine, Inflation; bei Kirche: sinkende Mitgliederzahlen, Ressourcen und gesellschaftlicher Bedeutungsverlust); andererseits ein gewisser Abstumpfungseffekt (Corona vorbei, Kältewinter nicht so schlimm wie befürchtet, Krieg nichts Neues….).

In dieser Situation redet der Text von Befreiung und Mündigkeit!

Diese Freiheit ist kein Verdienst, sondern ein Geschenk, und sie ist auf das Tiefste verbunden mit der Menschwerdung Christi. Gerade indem er sich nicht nur in menschliche Sterblichkeit und Vergänglichkeit („geboren von einer Frau“), sondern auch unter das „Gesetz“ und die „Mächte dieser Welt“ begibt, sprengt er diese auf und befreit die, die an ihn glauben. Aus dem Glauben an den menschgewordenen Sohn Gottes erwächst Freiheit und Mündigkeit!

Dabei erweist sich die Freiheit aus dem Glauben wiederum im freien Dienst am Nächsten (vgl. Gal 5,14; 6,2 – oder gut reformatorisch in Luthers Doppelthese: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“). Die Menschwerdung Christi führt damit selbst zur mündigen „Mitmenschlichkeit“ der Christ:innen.

Eine Predigt über Gal 4 könnte also durchbuchstabieren, wie angesichts der (scheinbar übermächtigen) Gesetze und Mächte dieser Welt Freiheit aus dem Glauben aussieht, die sich gegen ohnmächtige Wut und Verzweiflung, aber auch Abstumpfung und Resignation gerade in der Mit-menschlichkeit bewährt. Eine wichtige Konkretion hierzu ließe sich m.E. aus Gal 4,6 ableiten, wo (mindestens indirekt) auf das Gebet als Betätigung und Bestätigung der Freiheit der Kinder Gottes verwiesen wird

4. Bezug zum Kirchenjahr

Trotz der Ergebnisse der Exegese, die zunächst eine Distanz zwischen der Perikope und den traditionellen Elementen des Weihnachtsfestes herstellen, wird sich eine Predigt – zumal in der Christvesper – nur schwer dem Eigengewicht des Heiligen Abends (und den damit verbundenen Erwartungen der Gottesdienstbesucher:innen) entziehen können.

„Als die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau“ lässt in diesem Kontext bei den Zuhörer:innen kaum andere Assoziationen als an Maria und den Stall zu….

Daran darf man m.E. auch durchaus positiv anknüpfen. Eine Weihnachtspredigt von Gal 4 her könnte dann aber weiterführend Weihnachten und die Menschwerdung Christi als Beginn eines Befreiungsgeschehens akzentuieren.

Zugleich vermag der Hinweis des Gal auf die Mündigkeit der Kinder Gottes (gegenüber der Unmündigkeit der Sklaven) einer Infantilisierung der Weihnachtsbotschaft (das Kindlein in der Krippe, das uns alle zu Kindern Gottes macht….) vorzubeugen.

5. Anregungen

Die Christvesper wird in vielen Gemeinden als Familiengottesdienst und oft mit Krippenspiel gefeiert. In diesem Fall sollte besonders darauf geachtet werden, Inhalt bzw. Akzentuierung des Krippenspiels und der Predigt miteinander abzustimmen.

Gleiches gilt für eine ebenso weit verbreitete Inszenierung der Verlesung der Weihnachtsgeschichte im Zusammenspiel mit Weihnachtsliedern.

Ausgehend von den ausgeführten Überlegungen ließen sich Gottesdienst und Predigt unter das Motto stellen: Weihnachten – das Fest der Freiheit! Dieses Motto kann dann neue und eher ungewohnte Perspektiven auf das Weihnachtsgeschehen eröffnen.

Gemäß Gal 4,6 kann der Gottesdienst (und insbesondere die Gebete) bereits selbst als ein Akt der Freiheit verstanden werden. Indem wir Gottesdienst im Geiste Jesu feiern, die Weihnachtsgeschichte verlesen oder aufführen, singen und beten (Abba, lieber Vater…), durchbrechen wir bereits die Ketten der „Knechtschaft der Mächte der Welt“ und machen etwas von der Freiheit der Kinder Gottes sichtbar und erlebbar.

So verstanden wäre die Christvesper selbst als ein Fest der Freiheit zu inszenieren.

Autoren

  • Prof. em. Dr. Dieter Sänger (Einführung und Exegese)
  • Dr. Claus Müller (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500005

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