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1. Samuel 2,1-8a | Ostersonntag | 31.03.2024

Einführung in die Samuelbücher

Die Samuelbücher sind Teil des deuteronomistischen Literaturwerks über die Geschichte des Gottesvolkes Israel/Juda. Sie vereinigen Überlieferungen, die sich um die drei zentralen Figuren Samuel, Saul und David ranken. Thematisch geht es in erster Linie um die Entstehung des Königtums im Übergang von der Richterzeit („Samuel und Saul“: 1Sam 1–15), Davids Aufstieg zum König von Juda und Israel (1Sam 16–2Sam 5, darin „Saul und David“: 1Sam 16–31) sowie die Frage, welcher Sohn Davids seinem Vater auf dem Thron folgen und damit den Schritt zum Bestand der Dynastie tun soll (2Sam 6–20 mit 1Kön 1f.). In diesen Blöcken sind etliche kleinere Erzählzusammenhänge wie die Ladeerzählungen (1Sam 4–6; 2Sam 6) oder die Texte um David, Bathseba und Uria (2Sam 11f.) enthalten. Die Anhänge in 2Sam 21–24 vereinigen Erzählungen und Lieder.

1. Die Entstehung der Samuelbücher

Dass die Samuelbücher nicht einheitlich sind, zeigt u.a. eine größere Zahl von Doppelüberlieferungen (z.B. in der Geschichte von Davids Aufstieg 1Sam 16–2Sam 5) und Widersprüchen (z.B. in der Bewertung des Königtums in 1Sam 8–12). Die Bücher sind das Ergebnis eines vielschichtigen Bearbeitungsprozesses, in dem mithilfe bestehender Überlieferungen theologische Probleme diskutiert wurden, die durch die Katastrophe Jerusalems im Jahre 587/86 v. Chr. aufgekommen waren: Die Zerstörung der Stadt und des Tempels sowie das Ende der politischen Selbständigkeit hatten zu einer Krise geführt, in deren Verlauf alte Sicherheiten und überkommene Vorstellungen neu verhandelt wurden (s.u.). Die von der älteren Forschung (v.a. Leonhard Rost) herausgearbeiteten literarischen Einheiten wie Aufstiegs- oder Thronfolgegeschichte Davids markieren dabei thematische Zusammenhänge, die literarischen Prozesse (wie etwa die dtr oder weisheitlichen Bearbeitungen) vollziehen sich aber über deren Grenzen hinweg. In der gegenwärtigen Forschung herrscht eine rege Diskussion über den Umfang der alten Materialien und die Intensität der Überarbeitungen. Dabei steht einem großen Vertrauen in die Existenz vordtr Überlieferungen und in die frühe Königszeit als formative Epoche (z.B. Walter Dietrich) eine Sicht gegenüber, die ein lebendiges literarisches Wachstum in nachexilischer Zeit veranschlagt (z.B. Reinhard Müller).

2. Entstehungsort, Verfasser und Adressaten

Die Samuelbücher dürften insgesamt in Palästina bzw. Jerusalem entstanden sein. Zwar sind mündliche Stadien der Überlieferung nicht auszuschließen, aber die Aufnahme und Überarbeitung schriftlicher Materialien setzt eine Zugangsmöglichkeit zu den verfügbaren Quellen voraus, für die nur Jerusalem als geistiges Zentrum in Frage kommt. Die verschiedenen Verfasser- und Adressatenkreise sind im schriftgelehrten Milieu zu suchen. In ihren literarischen Aktivitäten schlägt sich ein bewegter Diskurs über geschichtliche und theologische Fragen nieder, wie sie im folgenden Abschnitt aufgezeigt werden.

3. Inhaltliche Schwerpunkte

Ein zentrales Thema ist das Königtum und die Erwählung des konkreten Königs durch Jhwh. Die Tatsache, dass es mit Saul einen König über Israel gibt, wird einerseits verhalten positiv (1Sam 9,1–10,16; 11,1–15), andererseits negativ als Abfall von Jhwh (8,1–22; 10,17–27; 12,1–25) bewertet. Hierin schlägt sich ein Diskurs nieder, der mit der Katastrophe von 587/86 v. Chr. in Gang gesetzt worden ist. König Saul wird als glücklose, wenn nicht tragische Figur gezeichnet (vgl. etwa c. 28); sein Verhalten führt schon bald dazu, dass sich Jhwh von ihm abwendet, ihn verwirft (c. 13–15). Ein ausführlicher Blick gilt davor dem „Königsmacher“ Samuel, der als Kultdiener am Heiligtum in Schilo, als Prophet sowie als Kleiner und Großer Richter zugleich charakterisiert wird (c. 1–7). Im Auftrag Jhwhs lenkt er die geschichtlichen Verläufe, die zu Sauls Königserhebung führen.

Schon zu Lebzeiten Sauls wird David als der von Jhwh erwählte König eingeführt, so die spätere theologische Interpretation und mit ihr das Leserwissen im Hintergrund (16,1–13). Mit David beschäftigen sich vielfältige Überlieferungen, die etwa von seinem Aufstieg am Königshof (16,14–23; 18–20), seinen Umtrieben als Haupt einer Truppe von Freischärlern (c. 22–26) und seinem Dienst unter Philisterkönig Achisch von Gat (c. 27 – 29) wissen. Der folgenden Darstellung scheint daran gelegen, ihn von jeglicher Schuld am Tod Sauls und der Seinen sowie am Ende der saulidischen Dynastie freizusprechen (1Sam 31; 2Sam 1–4; 9). Andere Texte wie die Geschichte von Bathseba und Uria mit der Nathanparabel (2Sam 11f.) äußern explizite Kritik. Hierin schlägt sich eine Diskussion über die Zukunft der davidischen Dynastie nieder, die in den Jahrhunderten nach dem Exil geführt wurde, denn die Hoffnung auf deren Restitution wurde nicht aufgegeben.

Die Überlieferungen von Davids späteren Jahren (2Sam 13–20) laufen auf die Königserhebung Salomos (1Kön 1f.) zu. Die Davidsöhne Amnon (2Sam 13f.), Absalom (2Sam 15–19) und Adonia (1Kön 1f.) kommen nicht als Davids Nachfolger in Frage. In der Erzählung von Absaloms Aufstand wird gezeigt, dass David trotz großer militärischer Bedrängnis letztlich durch Jhwhs Hilfe siegt.

Während all diese Texte David als mindestens schillernde Figur zeichnen, sehen andere in ihm den frommen Kultgründer. Nachdem er Jerusalem als künftige Hauptstadt erobert hat (2Sam 5,6–12), holt er das Unterpfand von Jhwhs Gegenwart, die Lade, nach deren Irrfahrten in die Stadt (c. 6). Seinem Wunsch, Jhwh ein Haus (einen Tempel) zu bauen, wird mit der Verheißung begegnet, vielmehr werde Jhwh dem David ein Haus (eine Dynastie) bauen. Nach diesem späten theologischen Deutetext 2Sam 7 geht der Bestand der davidischen Dynastie auf göttlichen Willen zurück, Davids Nachkomme auf dem Thron wird Gottes Sohn genannt (V. 14).

Es sind gerade die Nebenfiguren, die die Samuelbücher lebendig machen. Abgesehen von den Stoffen über die Angehörigen von Sauls Familie (Jonathan, Michal, Abner, Meribbaal u.a.) und von Davids Familie (Amnon, Absalom, Adonia u.a.) verleihen z.B. die Erzählungen von Hannah (1Sam 1f.), von Eli und seinen Söhnen (c. 4–6), von Abigail und Nabal (c. 25), von der Frau aus En Dor (c. 28), von Nathan (2Sam 7; 11) oder von der Frau aus Thekoa (c. 14) den Büchern ein vielfältiges Profil. Und dies sind nur wenige Beispiele.

4. Besonderheiten

  • Im Kanon der Hebräischen Bibel werden 1 und 2Sam als ein Buch gezählt.
  • Masoretischer Text, Qumran (v.a. 1QSama) und LXX weichen an einzelnen Textstellen erheblich voneinander ab. Das Verhältnis der Textüberlieferungen ist aber noch nicht abschließend geklärt.
  • In 2Sam 11f. wird paradigmatisch das Problem von Schuld und Vergebung behandelt.
  • 2Sam 22 stellt eine Parallelüberlieferung zu Ps 18 dar.
  • In 2Sam 21,19 wird ein gewisser Elhanan ben Jair (statt Davids, 1Sam 17) als Bezwinger des riesengroßen Philisters Goliath genannt.

Literatur:

  • Dietrich, W., 1997, Die frühe Königszeit in Israel. 10. Jahrhundert v. Chr. (BE 3), Stuttgart / Berlin / Köln.
  • Müller, R., 2004, Königtum und Gottesherrschaft. Untersuchungen zur alttestamentlichen Monarchiekritik (FAT II/3), Tübingen.
  • Rost, L., 1926, Die Überlieferung von der Thronnachfolge Davids (BWANT 42), Stuttgart.

Kommentare

  • Stoebe, H. J., 1973, Das erste Buch Samuelis (KAT VIII/1), Gütersloh.
  • Stoebe, H. J., 1994, Das zweite Buch Samuelis. Mit einer Zeittafel von A. Jepsen (KAT VIII/2), Gütersloh.

A) Exegese kompakt: 1. Samuel 2,1-8

1וַתִּתְפַּלֵּ֤ל חַנָּה֙ וַתֹּאמַ֔ר עָלַ֤ץ לִבִּי֙ בַּֽיהוָ֔ה רָ֥מָה קַרְנִ֖י בַּֽיהוָ֑ה רָ֤חַב פִּי֙ עַל־א֣וֹיְבַ֔י כִּ֥י שָׂמַ֖חְתִּי בִּישׁוּעָתֶֽךָ׃ 2אֵין־קָד֥וֹשׁ כַּיהוָ֖ה כִּ֣י אֵ֣ין בִּלְתֶּ֑ךָ וְאֵ֥ין צ֖וּר כֵּאלֹהֵֽינוּ׃ 3אַל־תַּרְבּ֤וּ תְדַבְּרוּ֙ גְּבֹהָ֣ה גְבֹהָ֔ה יֵצֵ֥א עָתָ֖ק מִפִּיכֶ֑ם כִּ֣י אֵ֤ל דֵּעוֹת֙ יְהוָ֔ה וְלֹ֥א נִתְכְּנ֖וּ עֲלִלֽוֹת׃ 4קֶ֥שֶׁת גִּבֹּרִ֖ים חַתִּ֑ים וְנִכְשָׁלִ֖ים אָ֥זְרוּ חָֽיִל׃ 5שְׂבֵעִ֤ים בַּלֶּ֨חֶם֙ נִשְׂכָּ֔רוּ וּרְעֵבִ֖ים חָדֵ֑לּוּ עַד־עֲקָרָה֙ יָלְדָ֣ה שִׁבְעָ֔ה וְרַבַּ֥ת בָּנִ֖ים אֻמְלָֽלָה׃ 6יְהוָ֖ה מֵמִ֣ית וּמְחַיֶּ֑ה מוֹרִ֥יד שְׁא֖וֹל וַיָּֽעַל׃ 7יְהוָ֖ה מוֹרִ֣ישׁ וּמַעֲשִׁ֑יר מַשְׁפִּ֖יל אַף־מְרוֹמֵֽם׃ 8מֵקִ֨ים מֵעָפָ֜ר דָּ֗ל מֵֽאַשְׁפֹּת֙ יָרִ֣ים אֶבְי֔וֹן לְהוֹשִׁיב֙ עִם־נְדִיבִ֔ים וְכִסֵּ֥א כָב֖וֹד יַנְחִלֵ֑ם כִּ֤י לַֽיהוָה֙ מְצֻ֣קֵי אֶ֔רֶץ וַיָּ֥שֶׁת עֲלֵיהֶ֖ם תֵּבֵֽל׃

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Übersetzung

(1) Da betete Hannah und sprach: Mein Herz frohlockt im Herrn, / Mein Horn erhebt sich im Herrn. // Mein Mund wird weit gegen meine Feinde, / Denn ich freue mich über deine Hilfe. // (2) Keiner ist heilig wie der Herr, / Denn es gibt keinen außer dir, / Und keiner ist ein Fels wie unser Gott. // (3) Redet nicht weiter lauter Hochmütiges: / Freches kommt aus eurem Mund. // Denn ein Gott der Weisheit ist der Herr, / Und Taten haben keinen Bestand. // (4) Der Bogen von Helden ist zerbrochen, / Strauchelnde aber gürten sich mit Kraft. // (5) Satte verdingen sich um Brot, / Aber Hungrige werden für immer fett. // Die Unfruchtbare gebiert sieben, / Die Kinderreiche aber verwelkt. // (6) Der Herr tötet und macht lebendig, / Führt hinab ins Totenreich und bringt herauf. // (7) Der Herr macht arm und macht reich, // Erniedrigt und erhöht auch. // (8) Er erhebt den Geringen aus dem Staub, / Aus der Asche erhöht er den Armen, // Um sie bei den Edlen wohnen zu lassen, / Und einen Ehrenthron lässt er sie erben.

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V.1: Die Erhebung des Hornes ist ein Bild für Stärke und Macht, vgl. Ps 89,25; 92,11; 112,9 u.ö., zur Bedeutung der weiten Öffnung des Mundes vgl. Jes 57,4; Ps 35,21.

V.2: Das zweite Glied „Denn es gibt keinen außer dir,“ ist wahrscheinlich sekundär. Die Aussage geht in Richtung eines dezidierten Monotheismus, zwischen erstem und drittem Glied (dort 3. Pers.) wird zur direkten Anrede gewechselt, außerdem wird die Versstruktur gestört (s.u.).

V.3: Das letzte Glied „Und Taten haben keinen Bestand“ ist textlich sehr unsicher. Nach Qere, LXX und Vulgata wäre auch möglich: „Und von ihm werden Taten gewogen“.

V.4: Bei der Konstruktion „Der Bogen von Helden ist zerbrochen“ richtet sich das hebräische Prädikat nach dem nomen rectum der Cstr.-Verbindung, s. Gesenius Grammatik §146a, Brockelmann Syntax §124a. Zum Bild vom Zerbrechen des Bogens vgl. Sach 9,10; Ps 37,15; 46,10; 76,4.

V.5: Der Atnach trennt hier das Wort „für immer“ zu früh ab. Bei der Übersetzung „werden fett“ wird das Prädikat von חדל II abgeleitet. V. 5b hat eine enge Parallele in Jer 15,9.

2. Literarische Gestalt

Hannahs Lied ist ein Psalm außerhalb des Psalters mit deutlichen Elementen des Hymnus (vgl. etwa V.1f und bes. den Partizipialstil in V.6f) sowie Zügen des Dankliedes. Es ist im parallelismus membrorum und (vorwiegend) in Bikola gehalten, in denen der Doppeldreier überwiegt. Eine Gliederung in Strophen scheint nicht angebracht. Die Parallelismen sind in V. 1–3.8a synthetisch und in V. 4f. antithetisch. In V. 6f. liegt die Antithese bereits in je einem Versglied („tötet und macht lebendig“ etc.), so dass die Parallelismen hier verdichtend und steigernd wirken. Außerdem zeigen V. 6–8 starke Assonanzen auf den Buchstaben Mem. Der Text ist durch großen Bilder- und Gedankenreichtum sowie durch die Topik der Gebetssprache geprägt. Der Psalm bildet mit Davids Danklied in 2Sam 22, zu dem ein paar semantische Parallelen bestehen, eine Klammer um das ganze Buch.

3. Kontext

Hannah, die geliebte Frau Elkanas, ist kinderlos und wird deswegen von ihrer Rivalin Peninna gedemütigt. Beim jährlichen Opfer im Heiligtum von Schilo spricht sie ein Gelübde aus: Sollte sie einen Sohn bekommen, dann sei er sein Leben lang Jhwh gegeben. Jhwh erhört sie, und sie gebiert tatsächlich einen Sohn: Samuel. Nach seiner Entwöhnung bringt Hannah Samuel nach Schilo, um ihr Gelübde zu erfüllen (1Sam 1). Darauf folgt ihr Lobgesang 2,1–10. Das Lied selber hat nur wenige Bezüge zum Kontext und ist von unabhängiger literarischer Herkunft. Die Notiz 2,11 hält fest, dass Samuel ein Diener Jhwhs unter dem Priester Eli ist, und bereitet Samuels Berufung in c. 3 vor, in der ihm Jhwh den Untergang der Eliden ansagt. Mit Hannah steht eine Frau zu Beginn der Samuelbücher. Ohne sie wären die folgenden Ereignisse undenkbar.

Da 1Sam 2,8b–10 mit universalen Aussagen zur Schöpfung, zur Kontroverse von Gerechten und Frevlern, zum König sowie zu Jhwhs Gericht weit über ihren Kontext hinausgehen, ist die Abgrenzung des Predigttextes nach V. 8a sinnvoll.

4. Schwerpunkte der Interpretation

Obwohl Samuel, für dessen Geburt mit diesem Lied gedankt wird, einmal das Königtum einführen wird und damit für die theologische Geschichtsschreibung Israels von zentraler Bedeutung ist, steht hier Hannah ganz im Mittelpunkt: Es ist ihre persönliche Rettung durch Jhwh, die sie besingt. Doch der weite Horizont des Liedes und die Allgemeingültigkeit der Aussagen über den Gott Israels lassen sie zur exemplarischen Beterin werden. In ihrem Lied können sich viele Beterinnen und Beter wiederfinden, die für ihre Rettung danken oder noch auf Rettung hoffen.

Die am Ende von V. 1 genannte Rettung bezieht sich nach dem Kontext auf Hannahs Kinderlosigkeit, von der sie erlöst wurde. Die lapidare Aussage von V. 5b mag der Grund gewesen sein, den Psalm ins Samuelbuch zu intergrieren. Das Motiv von der Frau, die nach längerer Unfruchtbarkeit einen Sohn, einen Hoffnungsträger Israels, gebiert, spielt etwa auch in den Erzählungen von Sarah (Gen 16–21), Rebekka (Gen 25) und der Mutter Simsons (Ri 13) eine Rolle. Die Rede von den Feinden in V. 1 könnte allenfalls mit der Demütigung durch Peninna assoziiert werden: In einer Gesellschaft wie der des alten Israel wird der soziale Status einer Frau durch ihre Mutterschaft (von Söhnen) bestimmt. Die Unfruchtbare aber ist Ziel von Verachtung.

Die Rede von Jhwhs Unvergleichlichkeit (V. 2) wird sogleich durch eine weisheitliche Mahnung zur Mäßigung (V. 3) ergänzt, die nahezu im Kontrast zum Jubel von V. 1 steht. Damit werden grundsätzliche Aussagen über Jhwh eingeleitet, die bis zum Ende durchgehen. Zwar sind V. 4f. scheinbar ohne Bezug zu ihm formuliert, doch steht er vom Kontext her klar als Garant dieser „Regeln“ im Hintergrund. Die in V. 4–8a begegnenden Sätze sind das Herzstück des Psalms. In ihnen wird die Umkehrung bestehender Verhältnisse beschworen. Jhwh ist der Souverän über die Gegensätze von Stark und Schwach, Satt und Hungrig, Unfruchtbar und Kinderreich, Tot und Lebendig, Arm und Reich, Niedrig und Hoch. Soziale und biologische Gegebenheiten stellen für den Gott Israels keinerlei Grenzen dar: Über sie hinaus kann er helfen oder strafen. Zu V. 8a findet sich in Ps 113,7f. eine enge Parallele, vgl. ferner noch Ps 113,5f..

Aus der reichen Wirkungsgeschichte des Psalms ist v.a. das Magnifikat der Maria Lk 1,46–55 zu nennen: Auch dort geht es um die Geburt eines besonderen Sohnes, die der Erhebung einer Frau aus der Niedrigkeit (Lk 1,48) entspricht. Auch dort wird die Umkehrung der Verhältnisse in vergleichbarer Metaphorik (Lk 1,52f.) beschrieben.

5. Theologische Perspektivierung

Die Hannah des Samuelbuches hat eine Erfahrung gemacht, die ihr Leben grundlegend verändert. Der Psalm, der ihr in den Mund gelegt wird, preist den rettenden Gott nach Art eines Hymnus und formuliert Erkenntnisse über das Wesen Gottes. Die enthaltenen Gottesbilder sind transparent für eine Anwendung auf unterschiedliche Erlebnisse der Hilfe und Bewahrung; er eignet sich aber auch, um der Hoffnung von Leidenden und Unterdrückten Ausdruck zu verleihen. Schwache, Hungrige, oder Arme dürfen sich mit diesem Lied ermutigt fühlen, Starken, Satten und Reichen kann es ein Denkanstoß sein. Auch wenn die Rede von der Heraufführung aus dem Totenreich, der Scheol, hier vielleicht nur als poetisches Bild eingeführt wird, kann sie für Spätere doch Ausdruck einer noch ganz anderen Hoffnung sein.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Einführung in 1 und 2Sam und die Exegese des Predigttextes eröffnen einen weiten Horizont. Diese Öffnung gilt auch für die Auslegungsmöglichkeiten und entlastet gegenüber dem Fremden an der Perikope: die persönliche Situation Hannas, die in ein Lied mit extrem weit ausgreifenden Gottes-Charakteristika mündet? Harte Kontraste in der Gottes-Charakteristik? Die Rede der wegen Kinderlosigkeit gemobbten Frau über „Feinde“? Das Lied ergibt nun anders Sinn. Gleichzeitig ist die Entscheidung schwerer: Zu welchem der Aspekte soll eine Predigt entstehen?

Durch die Exegese scheint es nicht mehr möglich, die Perikope tendenziell wie das Magnifikat der Maria als persönliches Loblied zu hören; gerade die Verse 4 bis 8a (Exegese: Herzstück) wirken wie eine harsche Ansage an die schwindende saulidische Hoffnung zugunsten des davidisch-dynastischen Aufstiegs.

2. Thematische Fokussierung

Von der Exegese angeregt treten als Auslegungsmöglichkeiten besonders fünf Aspekte hervor:

  1. 1.Hannas persönliche Situation, als Exempel für den Wandel von Not zu Glück im Vertrauen auf Gott;
  2. 2.Lob und Charakterisierungen Gottes;
  3. 3.Ausblicke auf das Leben Samuels und sein Wirken;
  4. 4.ein Vergleich der Lieder von Frauen (s. Exegese), ihrer Rolle in der biblischen Botschaft, vielleicht auch des Themas Benachteiligung (hier durch Kinderlosigkeit) und deren Ende;
  5. 5.Aussagen über politischen Wandel im Bezug zu Gott, auch in der weiteren Perspektive von Regierungshandeln und Regierungsformen (in Israel Richter- und Königszeit).

Vielleicht spricht, gerade zu Ostern, der große weltpolitische Aspekt stärker in die Lebenswelt als – sonst oft vorzuziehen – die persönliche Situation. Im Vertrauen auf Gott und im Zusammenklang mit dem grundstürzenden Ereignis der Überwindung des Todes zu Karfreitag und Ostern könnte Hannas Lobgesang eine frohe Botschaft für den Weg aus Gottes Willen von Elend zum Guten bringen. Damit soll nicht einer zu politisierten Predigt das Wort geredet werden. Aber von der Exegese angeregt, könnte dieser Teil der Wirklichkeit legitim thematisiert werden.

Hannas Lobgesang ist mit einer Reihe biblischer Personen verbunden, die, je nach Kenntnisstand in der hörenden Gemeinde, vorkommen könnten: Hanna selbst, der Prophet und Richter und Königsmacher Samuel, die Könige Saul und David; durch die Liedform auch Maria und ihr Lobgesang und die anderen in der Exegese genannten Frauen; schließlich weitere Lieder und Lieddichtungen von Mose über Mirjam, Hanna, Samuel, David bis zu Maria, Zacharias (s. Exegese!), Simeon, Johannes und weiter in die Osterlieddichtungen. Im Jubiläumsjahr des ersten evangelischen Gesangbuchs 1524 könnte diese ‚Brücke‘ berücksichtigt werden.

3. Theologische Aktualisierung

Ostern ist Anlass für eine, für die frohe Botschaft – die der ganzen Härte des Karfreitags, Karsamstags und der Passionszeit gegenübersteht. Auch der Lobgesang der Hanna ist hoffnungsvoll gestimmt, enthält aber auch sehr harte Worte und Sprachbilder (zerbrochen, hungern, dahinwelken, töten, erniedrigen). Theologisch passt es: Zwar liegt in Schwachheit Stärke, in Christi Leiden Erlösung, aber es ist kein „Kuschel-Gott“, der den Tod überwindet. Der persönliche Wechsel für Hanna ist genauso wie die Situationsänderung für Unterdrücker oder der Dynastiewechsel in diese Spannung von Hoffnung / Freude und Warnung gestellt, von Gottes Macht getragen und Seinem Willen unterworfen.

Diese direkten Zuschreibungen sind gleichzeitig christlichem Denken eher fremd. Sie gehen von einem unmittelbaren „Wirken Gottes in der Geschichte“ aus, das so in gegenwärtiger Geschichtstheologie und Geschichtsverständnis nicht vorkommt. Erwartung und Hoffnung sind verantwortlich auszutarieren.

Wird Hannas persönliche Situation einer Ausgrenzung, Erniedrigung und lange enttäuschten Erwartung synonym zu anderen sozialen Erfahrungen und menschlichen Demütigungen gesetzt, ergeben sich aus der Änderung der Situation und der Charakterisierung von Gottes Handeln im Lobgesang viele Anknüpfungsmöglichkeiten für die Rede von innerweltlicher Hoffnung, Veränderungen durch den Glauben und endzeitlicher Erlösung.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Die Überwindung des Todes hat im christlichen Verständnis einmalig in Christi Erlösungshandeln stattgefunden. Sie wirkt sich vielfältig im Leben der Glaubenden aus. Die Erfahrung der von Gott gewirkten Überwindung, das Durchdringen vom Tod zum Leben, mindestens der Wechsel von Aussichtslosigkeit und Erniedrigung hin zu Lebendigkeit, Lebenslust und Stärke prägt auch den Predigttext. Insofern passt die Perikope zum Ostersonntag, wenn auch nicht im Sprachduktus des leidensbereiten Osterlamms der synoptischen, johanneischen und paulinischen Sprachwelt. (Bei einer Anknüpfung an Hannas persönlichen Weg muss deutlich werden, dass nicht der Wechsel von Kinderlosigkeit zu Mutterschaft „die Erlösung“ ist, sondern Hannas Weg ein Beispiel für die Erfahrung von Gottes erlösender Macht, die sich Ostern in ganz anderer, umfassender Weise zeigt. Zu viele leiden bleibend unter Kinderlosigkeit oder persönlich empfundenen Defiziten.)

Hervorragend passt der Predigttext zur Epistel (1Kor 15, 1–11) mit ihren Aussagen zu den Zeugnissen von Christi Auferstehung und deren Sinn und zum Auferstehungsbericht der Evangelienlesung (Mk 16, 1–8). Der Wochenspruch Apk 1, 18 enthält einen mindestens so harten Kontrast (tot – lebendig) wie viele Verse des Predigttextes. Für gesungene Psalmtraditionen entspricht der Leitvers (nach Ps 139,18b.5b) der Stimmung des Lobgesangs der Hanna. Der Wochenspalm hat eine eigene Bildwelt mit Anknüpfungspunkten zum Predigttext. Viele Osterlieder enthalten den Wechsel vom Tod zum Leben, auch das traditionelle Wochenlied EG 101, emotional und atmosphärisch knüpft auch das neue Wochenlied EG.E 5 an. Jede Auferstehungsdarstellung im Kirch- bzw. Gottesdienstraum bietet eine Anknüpfungsmöglichkeit. Allerdings bleibt der Eindruck, dass hier ein eher fremder, direkter, fast roher Text in das Ostergeschehen integriert werden muss. Vielleicht lernen sehr friedens-, entwicklungs- und fortschrittsoptimistische Gesellschaften gerade angesichts von Kriegswahrnehmungen, Migrationselend und Klimasorgen wieder eine direkte Hoffnung und Sprache in der Beziehung zu Gott. Aber der Text bietet Gefahren von Missverständnissen, bis hin zu einer „Willkür“ Gottes.

5. Anregungen

Die Agende platziert den Predigttext bewusst Ostersonntag, nicht in der Osternacht. Der hymnisch-triumphierende Tonfall passt, in traditionellen Gottesdienstabläufen, deutlich besser zum Wiedereinsetzen der Orgel und nach EG 99 als zu leiseren Tönen – in einer Gemeindepraxis mit mehreren Gottesdiensten und -orten zu den verschiedenen Zeiten (23 Uhr, 24 Uhr, 6 Uhr, 10 Uhr) eine Herausforderung. Eine Predigt im hymnischen Stil könnte den Text gut integrieren. Die oder der Predigende wäre hier kraftvoll verkündigende Person.

Leisere Töne sind jedoch auch denkbar: Ein Nachkomme Samuels oder Samuel selbst finden den Text auf. Bewahrungs- und Handlungserleben mit Gott aus ihrer Biographie verbinden sich mit dem Lobgesang der Hanna, der dann etwas Prophetisches hätte.

Oder Maria und Hanna begegnen einander und blicken, unter Verwendung ihres jeweiligen Lobgesangs auf das Handeln ihrer Söhne, auf Gott und Glaubenserfahrung, auf Verheißungen. Gerade das Magnifikat (Lk 1,47–55) könnte gut in die Predigt einbezogen werden.

Autoren

  • Prof. Dr. Thilo Alexander Rudnig (Einführung und Exegese)
  • Dr. Andreas Ohlemacher (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500032

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