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2. Korinther 3,3-6(7-9) | 20. Sonntag nach Trinitatis | 13.10.2024

Einführung in den 2. Korintherbrief

Der 2 Kor ist Teil einer umfangreichen Korrespondenz des Paulus mit der von ihm gegründeten Gemeinde in Korinth. Vorangegangen sind ein heute verloren Brief (erwähnt in 1 Kor 5,9) und der 1 Kor.

1. Verfasser

Paulus ist der einzige ntl. Autor, über den wir genauere Kenntnisse haben. Geboren (vermutlich zwischen 1 und 10 n.Chr.) in Tarsus, ist die Zeit vor seiner Berufung (32/33 v.Chr.) nur in Umrissen erkennbar; über die Zeit bis zum Beginn der selbständigen Mission in Europa (Philippi: 50 n.Chr.) gibt es schon wesentlich mehr Nachrichten, und über die letzten rund 12 Jahre seines Wirkens, d.h. bis zur Hinrichtung in Rom 62 n.Chr., liegen die meisten Informationen vor.

2. Adressaten

Die im Jahre 51/52 n.Chr. gegründete „ekklesia“ war in sich keine homogene Einheit, wie bereits aus 1 Kor 1-3 hervorgeht. Sie war Teil einer sich dynamisch entwickelnden Hafen- und Handelsstadt, und auch selbst eine lebhafte Gemeinde, die sich offenbar rasch entwickelte und in sich recht komplex war. In der Zeit nach der Abreise des Paulus aus Korinth hat es intensive Kontakte mit anderen Gemeinden gegeben, und Missionare aus anderen Gemeinden sind mit Empfehlungsbriefen von diesen nach Korinth gekommen (2 Kor 3,1-3). Sie haben offenbar ein anderes Apostelbild vertreten. Paulus nennt sie ironisch „Überapostel“ (11,5). Trotz ihrer Selbstbezeichnung als „Hebräer, Israeliten, Same Abrahams und Diener Christi“ (11,22f) vertraten sie keine judaistischen Forderungen, etwa die der Beschneidung (anders also als in Galatien). Die neuere Forschung ist insgesamt vorsichtig geworden, diese Gegner möglichst genau bestimmen zu wollen. Die Gemeinde in Korinth war eindeutig das Sorgenkind des Paulus, aber gerade mit ihr hatte er auch die umfangreichste Korrespondenz.

3. Entstehungsort

Ob es ‚den‘ einen Entstehungsort gab, hängt davon ab, ob man den vorliegenden 2 Kor als Brief ansieht, der einheitlich abgefasst und abgeschickt worden ist, oder ob man ihn als eine spätere Kompilation mehrerer ursprünglich eigenständiger Briefe beurteilt. In der Literatur wird unter der Voraussetzung der Einheitlichkeit als Zeit der Spätherbst 55 und als Ort Makedonien, (d.h. eine der dortigen christlichen Gemeinden) genannt. Dies beruht auf den Angaben in 2,12f; 7,5-7. Rechnet man mit mehreren Briefen, sind Ort und Zeit der Abfassung für die einzelnen Briefe getrennt zu klären.

4. Wichtige Themen

Die Frage der Briefkompilation:

Ein in der Exegese des 2 Kor bis heute umstrittene Frage ist, ob  es sich bei diesem Text um ein einheitlichen Brief handelt, ob er also in der vorliegenden Form abgefasst und als ganzer abgeschickt worden ist, oder ob es sich um eine Zusammenstellung mehrerer ursprünglich einzeln verfasster Briefe handelt. Grund für die Debatte sind massive Schwierigkeiten, die gegen die Einheitlichkeit sprechen:

1. In 2 Kor 7,5-16 herrscht (nach einer überwundenen Krise) volles Vertrauen zwischen Paulus und der Gemeinde, dagegen tobt in 10,1-13,10 der offene Kampf (vgl. 13,1-10). Daher wird dieser Teil oft als eigenständiger Brief („Tränenbrief“ [s. 2,4]) oder „Kampfbrief“) angesehen (so E.-M. Becker, D.-A. Koch, F. Lang, M.M. Mitchell).

2. Auch innerhalb von 1,1-9,15 gibt es erhebliche Spannungen:

  1. 1.Die in 2,12f begonnene Erzählung von der Reise des Paulus, um Titus zu treffen, wird abrupt unterbrochen und erst in 7,5 fortgesetzt. Dafür gibt es in den übrigen Briefen des Paulus keine Parallele.
  2. 2.In 6,12f; 7,2-4 (also direkt vor dem Neueinsatz 7,5) findet sich zudem ein Briefschluss, der sich von dem in 7,16 deutlich unterscheidet: Hier, in 6,12f; 7,2-4, wirbt Paulus um das Vertrauen der Gemeinde, das nach 7,15f doch vollständig wiederhergestellt ist.
  3. 3.In Kap 8 und 9 wird zweimal die geplante Kollekte für die Gemeinde in Korinth behandelt. Beide Kapitel sind untereinander unverbunden und haben auch keine Verbindung zu den übrigen Teilen des Briefes.
  4. 4.Schließlich ist 6,14-7,1 ein Fremdkörper, der mit seiner scharfen Abgrenzung nach außen wichtigen Aussagen des 1 Kor widerspricht und häufig für unpaulinisch gehalten wird (so F. Lang, D.-A. Koch, M.M. Mitchell).

Nimmt man ernst, dass hier ganz unterschiedliche Situationen im Verhältnis zwischen dem Apostel und seiner Gemeinde sichtbar werden, ist eine einheitliche Interpretation kaum möglich, auch wenn dies immer wieder versucht wird (so Th. Schmeller). Eine mögliche Rekonstruktion der Briefabfolge (und der Krise zwischen Apostel und Gemeinde) rechnet mit 5 Briefen (so M.M. Mitchell; D.-A. Koch):

Brief A: „1. Kollektenbrief“ (2 Kor 8; Mai 54): Paulus versucht die Kollekte für die Gemeinde in Jerusalem (vgl. 1 Kor 16,1-4), die in Korinth zwischenzeitlich ins Stocken geraten ist, wieder in Gang zu bringen. Kurz danach hat Paulus neue Nachrichten aus Korinth, die besagen, dass nicht nur die Kollekte, sondern auch sein Apostelamt insgesamt in Frage gestellt wird. Die Reaktion ist:

Brief B: „Apologie“ (2 Kor 2,14-6,13; 7,2-4; Juni 54): Paulus verteidigt sein Verständnis des Apostelamtes in klarem, aber ruhigem Ton. Im August 54 reist Paulus spontan von Ephesus nach Korinth, um direkt die Probleme zu klären („Zwischenbesuch“). Der Besuch endet in einer offenen Konfrontation. Paulus reist ab. Es droht der offene Bruch. Die Reaktion ist:

Brief C: sog. „Tränenbrief“ bzw. „Kampfbrief“ (2 Kor 10,1-13,10; August 54); Paulus verfasst eine harte Attacke, um die Gemeinde zur Umkehr zu bewegen, und schickt Titus mit diesem Brief nach Korinth.

Die Briefe A/B/C sind von Ephesus aus verfasst. Danach reist Paulus zunächst nach Alexandria Troas, hat dort keine Nachricht von Titus, reist diesem im Winter 54/55 nach Makedonien entgegen (2,12f; 7,5-7); dort trifft er Titus, der von der erfolgreichen Versöhnung berichtet. Die Reaktion ist:

Brief D: „Versöhnungsbrief“ (2 Kor 1,1-2,13; 7,5-16; Frühjahr 55): Paulus klärt letzte offene Fragen und bestätigt seinerseits die Versöhnung.

Brief E: „2. Kollektenbrief“ (2 Kor 9; April/Mai 55): Die wiederaufgenommene Kollekte soll möglichst bald beendet werden.

Verfasst sind die beiden letzten Briefe in einer Gemeinde in Makedonien (also Philippi, Thessaloniki oder Beroia). Anders als der 1 Kor sind die im 2 Kor zusammengefassten Briefe nicht einzeln abgeschrieben und an andere Gemeinden weitergegeben worden, was angesichts der heftigen Angriffe in 10,1-13,10 auch nicht verwunderlich ist. Die Zusammenstellung der Briefe und deren Veröffentlichung als einheitlicher Text erfolgte erst später, im Zusammenhang mit der Sammlung der Paulsubriefe Ende des 1. Jh. n.Chr. Jetzt war die Krise zwischen Paulus und der Gemeinde in Korinth längst Vergangenheit, andererseits war man daran interessiert, möglichst viel von den zeitübergreifenden Einsichten und Aussagen des Apostels für die Gegenwart und die Zukunft zu bewahren. Dagegen tritt das Interesse an der ursprünglichen Abfassungssituation zurück, was sich auch daran zeigt, dass die Briefe nicht in chronologischer Abfolge angeordnet sind wobei die massive Polemik des "Kampfbriefs" erst am Ende erscheint (10,1-13,10). In diesem Zusammenhang wurde auch das unpaulinische Stück 6,14-7,1 eingefügt, das mit seiner Forderung nach scharfer Abgrenzung nach außen ein Gegengewicht gegen deutlich anders ausgerichtete Aussagen des 1Kor (so 1 Kor 5,10; 7,12-14) bilden soll.

5. Inhaltliche Schwerpunkte

Zentrales Thema von „Apologie“ und „Kampfbrief“ ist das Apostelamt, und zwar insbesondere die Schwachheit und das Leiden des Apostels. Dies passt nicht zu dem offensichtlich vielfach erwünschten Bild eines religiösen Heros, der in seiner Person die Überlegenheit der eigenen Botschaft anschaulich werden lässt. Paulus nimmt diese Kritik auf, ohne sich ihr anzupassen. Im Gegenteil: Wenn er der Apostel des Gekreuzigten ist (vgl. 1 Kor 2,2), dann sind Schwachheit und Leiden kein Zufall. Natürlich hebt Paulus die Größe seines „Dienstes“ hervor, der eine διακονία τοῦ πεύματος, ein „Dienst des Geistes“ ist (3,8), aber: „Wir haben diesen Schatz in tönernen Gefäßen“ (4,6). Insofern ist es kein Zufall, dass es in beiden Briefen B und C, den umfangreichsten Briefen innerhalb der Briefkompilation, sogar jeweils zwei Leidenskataloge gibt (Brief B „Apologie“: 4,8f; 6,4-10 / Brief C „Kampfbrief“: 11,24-29; 12,10). Die Aussagen über das Apostelamt kulminieren in der geradezu klassischen Definition dieses Amtes, das auf dem Versöhnungshandeln Gottes beruht und in dem seinerseits das Apostelamt als „Dienst der Versöhnung“ (5,16-6,2) seinen Ursprung hat. Daneben gibt es in 3,12-18 hermeneutisch höchst relevante Ausführungen über das Verständnis der Schrift angesichts des Christusgeschehens, und in 5,1-10 nimmt Paulus eine in 1 Kor 15 aufgeworfene Frage wieder auf: die Frage nach der Leiblichkeit im Zusammenhang mit der Totenauferstehung und die Frage nach der endzeitlichen Christusgemeinschaft der Glaubenden.

Literatur:

  • Eve-Marie Becker, Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief, NET 4, Tübingen 2002.
  • Dietrich-Alex Koch, Geschichte des Urchristentums. Ein Lehrbuch, Göttingen 22014, 214‒315. 333‒337.
  • Margret M. Mitchell, Art. Korintherbriefe, RGG4 4, 2001, 1688–1694.

Kommentare

  • Friedrich Lang, Die Briefe an die Korinther, NTD 7, Göttingen 1986.
  • Thomas Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther. Teilband I. 2 Kor 11,–7,4, EKK 7/1, Neukirchen-Vluyn/Ostfildern 2010.
  • Margaret E. Thrall, The Second Epistle to the Corinthians, Volume I. Introduction and Commentary on II Corinthians I–VII / Volume II. Commentary on Corinthians VIII–XII, ICC, Edinburgh 1994 und 2000.

A) Exegese kompakt: 2. Korinther 3,3-6 (7-9)

Der kanonische 2 Kor ist, anders als der 1Kor, ein ganz heterogenes Gebilde und besteht aus mehreren sehr unterschiedlichen Teilen. Verständlich wird dieser Befund unter der Voraussetzung, dass hier mehrere ursprünglich selbstständige Briefe zusammengestellt worden sind. Dabei stammen dieses Briefe alle von Paulus, und sie sind alle an die gleiche Gemeinde, Korinth, gerichtet. Geschrieben wurden sie alle im Anschluss an den 1.Kor. Eine klare Struktur ergibt sich, wenn man mit fünf Briefen rechnet, die alle innerhalb von etwa 12 Monaten verfasst wurden, aber im jetzigen 2Kor nicht in ihrer ursprünglichen Abfolge enthalten sind. Ordnet man diese Briefe zeitlich, so ergibt sich als Reihenfolge:

A         8,1-24                         "1. Kollektenbrief"

B         2,14-6,13; 7,2-4          "Apologie"

C         10,1-13,10                  "Kampfbrief"

D         1,1-2,13; 7,2-4            "Versöhnungsbrief"

E         9,1-15                         "2. Kollektenbrief"

In dieser Abfolge spiegelt sich eine tiefe Krise zwischen Paulus und der von ihm gegründeten Gemeinde in Korinth wider, die etwa eineinhalb Jahre, nachdem Paulus von Korinth nach Ephesos gewechselt ist, ihren Anfang genommen hat. Sichtbar wird diese Krise in der "Apologie" (Brief B): Wanderprediger aus anderen christlichen Gemeinden sind in der Gemeinde in Korinth für längere Zeit zu Gast. Sie vermitteln ein anderes Apostelbild als das, das Paulus selbst vertreten hat. So spielen bei ihnen pneumatische Fähigkeiten, wie der Empfang von Erscheinungen und Offenbarungen, eine wichtige Rolle, hinzu kommt eine beachtliche Redekunst. Kurz: Sie verkörpern Typ eines Wanderpredigers, der auch durch sein äußeres Erscheinungsbild, d.h. seine Präsenz und sein Auftreten, die Überlegenheit der neuen Botschaft glaubwürdig zur Anschauung bringt. Hierin waren diese Wanderprediger Paulus deutlich überlegen (vgl. 2Kor 10,10), was ihren Erfolg in Korinth erklärt.

Zur Abgrenzung des Predigtextes

In der vorgegebenen Form beginnt der Predigttext mit 3,3. Doch ist 3,3 eine Antithese, die nur vor dem Hintergrund von 3,1f. verständlich ist. Anderseits ist die Antithese „Buchstabe / Geist“ in 3,6, die von Paulus selbst gebildet worden ist, auf die Fortsetzung und Erläuterung durch V. 7-11 hin angelegt. Will man die Predigt nicht überfrachten, muss man entweder 3,1-6 oder 3,4-9 zugrunde legen.

1Ἀρχόμεθα πάλιν ἑαυτοὺς συνιστάνειν; ἢ μὴ χρῄζομεν ὥς τινες συστατικῶν ἐπιστολῶν πρὸς ὑμᾶς ἢ ἐξ ὑμῶν; 2ἡ ἐπιστολὴ ἡμῶν ὑμεῖς ἐστε, ἐγγεγραμμένη ἐν ταῖς καρδίαις ἡμῶν, γινωσκομένη καὶ ἀναγινωσκομένη ὑπὸ πάντων ἀνθρώπων, 3φανερούμενοι ὅτι ἐστὲ ἐπιστολὴ Χριστοῦ διακονηθεῖσα ὑφ’ ἡμῶν, ἐγγεγραμμένη οὐ μέλανι ἀλλὰ πνεύματι θεοῦ ζῶντος, οὐκ ἐν πλαξὶν λιθίναις ἀλλ’ ἐν πλαξὶν καρδίαις σαρκίναις.

4Πεποίθησιν δὲ τοιαύτην ἔχομεν διὰ τοῦ Χριστοῦ πρὸς τὸν θεόν. 5οὐχ ὅτι ἀφ’ ἑαυτῶν ἱκανοί ἐσμεν λογίσασθαί τι ὡς ἐξ ἑαυτῶν, ἀλλ’ ἡ ἱκανότης ἡμῶν ἐκ τοῦ θεοῦ, 6ὃς καὶ ἱκάνωσεν ἡμᾶς διακόνους καινῆς διαθήκης, οὐ γράμματος ἀλλὰ πνεύματος· τὸ γὰρ γράμμα ἀποκτέννει, τὸ δὲ πνεῦμα ζῳοποιεῖ. 7Εἰ δὲ ἡ διακονία τοῦ θανάτου ἐν γράμμασιν ἐντετυπωμένη λίθοις ἐγενήθη ἐν δόξῃ, ὥστε μὴ δύνασθαι ἀτενίσαι τοὺς υἱοὺς Ἰσραὴλ εἰς τὸ πρόσωπον Μωϋσέως διὰ τὴν δόξαν τοῦ προσώπου αὐτοῦ τὴν καταργουμένην, 8πῶς οὐχὶ μᾶλλον ἡ διακονία τοῦ πνεύματος ἔσται ἐν δόξῃ; 9εἰ γὰρ τῇ διακονίᾳ τῆς κατακρίσεως δόξα, πολλῷ μᾶλλον περισσεύει ἡ διακονία τῆς δικαιοσύνης δόξῃ.

2. Korinther 3:1-9NA28Bibelstelle anzeigen

Übersetzung

1 Beginnen wir wieder, uns selbst zu empfehlen? Oder haben wir etwa wie einige (andere) Empfehlungsbriefe an euch oder von euch nötig? 2 Unser Brief seid ihr, der geschrieben ist in unsere Herzen, der von allen Menschen erkannt und gelesen wird, 3 denn ihr seid offenbar als Brief Christi, der von uns als Diener besorgt worden ist, geschrieben nicht mit Tinte, sondern durch den Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinernen Tafeln, sondern auf fleischernen Herzen als Tafeln. 4 Ein solches Vertrauen haben wir durch Christus zu Gott. 5 Nicht dass wir von uns aus befähigt wären, irgendetwas von uns selbst aus zu beurteilen, sondern unsere Befähigung kommt aus Gott, 6 der uns nämlich befähigt als Diener des neuen Bundes, nicht [eines Bundes] des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig. 7 Wenn aber der Dienst des Todes, mit Buchstaben auf Steinen eingemeißelt, in Herrlichkeit geschah, so dass die Kinder Israels nicht in das Angesicht des Mose wegen des (doch) vergänglichen Glanzes seines Angesichts blicken konnten, 8 um wie viel mehr wird nicht der Dienst des Geistes in Herrlichkeit sein! 9 Denn wenn dem Dienst der Verurteilung Herrlichkeit (zukommt), um wie viel mehr ist der Dienst der Gerechtigkeit überreich an Herrlichkeit.

1. Kontext und Situation

In V. 1 geht Paulus polemisch darauf ein, dass „einige“, die in die Gemeinde gekommen sind, zu ihrer Legitimation Empfehlungsbriefe anderer (natürlich christlicher) Gemeinden vorgewiesen haben. Offenbar halten sie das für einen Pluspunkt gegenüber Paulus, der solche Empfehlungsbriefe nicht vorweisen kann. Im Falle von Korinth wäre das auch sinnlos gewesen, denn Paulus hat ja überhaupt erst die christliche Gemeinde von Korinth gegründet. Relevant ist die Frage deshalb, weil die „Befähigung“ des Paulus überhaupt angezweifelt wird (2,16 Ende, sodann: 3,5)

2. Argumentation

Daher dreht Paulus in seiner Entgegnung die Argumentation um (V. 2): Die von ihm gegründete Gemeinde ist sein „Empfehlungsbrief“, und sie ist jedem menschlichen Empfehlungsschreiben überlegen. Ja sie ist sogar ein „Brief Christi“, da sie ja als Gemeinde Jesu Christi letztlich auf diesen selbst zurückgeht. Sie ist ein „vom Geist des lebendigen Gottes“ geschriebener Brief (V. 3), nicht auf Stein, sondern auf „fleischernen Herzen“ als „Tafeln“. Dieser Wechsel in der Metaphorik (Briefe werden auf Papyrus, nicht auf „steinernen Tafeln“ geschrieben) ist auffällig und erfolgt im Vorgriff auf V. 7, wo die Sinaigesetzgebung in den Blick kommt.

In der Zuversicht (V. 4), dass die Existenz der Gemeinde seine wahre Empfehlung als Apostel ist, kann er in V. 5 die kritische Frage nach seiner Befähigung (ἱκανότης) diskutieren. Mit der Aussage, dass seine „Befähigung“ von Gott kommt, verschiebt er jedoch die Argumentationsebene: Die Gegner verstehen unter „Befähigung“ die persönliche Eignung eines Apostels, etwa seine pneumatischen Fähigkeiten und seine Redekunst. Paulus spricht dagegen von seiner Beauftragung durch Gott. Das ist es, was für ihn zählt. Er geht sogar so weit zu behaupten, dass er von sich aus überhaupt nichts „beurteilen“ kann. Worin sein Auftrag besteht, folgt dann in dem sehr dicht formulierten V. 6: Er ist berufen zum „Diener des neuen Bundes“, was dann sofort durch die Antithese von Buchstabe und Geist erläutert wird, die ihrerseits durch den Hinweis auf deren unterschiedliche Wirkungsweise (töten / lebendig machen) begründet und entfaltet wird.

Das Wort διαθήκη ist in der Bedeutung "Bund" in der LXX ein theologisch wichtiger Begriff und wird dort als umfassende Bezeichnung für das positive Verhältnis zwischen Gott und seinem erwählten Volk verwendet. Der Begriff „Neuer Bund“ (καινὴ διαθήκη) begegnet auch in der LXX, aber nur in Jer 31 (LXX: 38), 31-33. Dort wird ein „neuer Bund“ verheißen, der dem Bund mit den Vätern überlegen ist, insofern dann die Erfüllung der „Gesetze“ den Israeliten „ins Herz“ gelegt werden wird. Allerdings hat dieser Text keine erkennbare Wirkung entfaltet, er wird nirgends zitiert, auch nicht in Qumran, wo lediglich das Stichwort erscheint, ohne dass dies als Verheißung verstanden wird. Für das Verständnis in 2Kor ist dagegen die sehr frühe christliche Verwendung relevant, denn das Stichwort „Neuer Bund“ erscheint bereits in der vorpaulinischen Abendmahlsüberlieferung von 1Kor 11,24f. Im „Blut“, das metonymisch für den „Tod“ steht, gründet der „Neue Bund“. Diese enge Verklammerung von Heilstod und „Neuem Bund“ bedeutet, dass im Christusgeschehen Gott ein neues, umfassendes Verhältnis zu denen eingeht, die an diesem Mahl teilnehmen. Damit hat der Begriff „Neuer Bund“ plötzlich ein erhebliches Gewicht gewonnen, ist das Herrenmahl doch ein charakteristisches Basisritual des Urchristentums.

Dieses durch und durch christologisch geprägte Verständnis der καινὴ διαθήκη ist zu berücksichtigen, wenn dieser Bund durch die Antithese von Buchstabe und Geist erläutert wird. Sie ist vor Paulus nirgends belegt und ist ab V. 3 schrittweise vorbereitet, also eine paulinische Neuschöpfung. Geist / πνεῦμα ist dabei keine anthropologische Größe (wie Herz oder Verstand), auch kein allgemeines geistiges Prinzip, sondern nach V. 3 der Geist des „lebendigen Gottes“, der in der Taufe, diesem anderen urchristlichen Basisritual, allen Getauften zugesagt und verliehen wird. Ausgangspunkt für das Verständnis von γράμμα / Buchstabe ist zunächst die Kontroverse um die Empfehlungsbriefe (V.1f). Briefe bestehen in der Tat aus Buchstaben, aber auch Steintafeln sind mit Buchstaben beschrieben, und von „steinernen Tafeln“ hat Paulus bereits in V. 3 geredet. Gemeint sind, wie spätestens in der Anspielung auf Ex 34,30 in V. 7 klar wird, die Steintafeln der Sinai-Gesetzgebung. Wie Paulus dieses Gegenüber von (Gottes-)Geist und (Gesetzes-)Buchstaben verstanden wissen will, zeigt die abschließende Begründung: „Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“. Dass der Geist lebendig macht, ist urchristliche Grunderfahrung: In der Taufe wird mit der Geistverleihung neues Leben geschenkt. So kann Paulus in 5,14, einem weiteren wichtigen Text innerhalb der „Apologie“ sagen: „Wenn einer gestorben sind, sind alle gestorben“, was sich natürlich auf Christus bezieht. Und die Folge wird in 5,17 formuliert: „Wer in Christus ist, ist eine neue Kreatur“. Die kritische Beurteilung des Sinaigesetzes entspricht Grundlinien des paulinischen Gesetzesverständnisses. Schon in 1Kor 15,56 hatte Paulus den engen Zusammenhang von Sünde, Tod und Gesetz formuliert. Nach Gal 2,21b ermöglicht das Gesetz gerade kein Leben, und in Röm 7, wo Paulus das Problem weiter durchreflektiert, stellt er fest, dass das Gesetz, an sich heilig, gerecht und gut (7,12), in der Hand des ‚sarkischen‘ Menschen (7,14) zur Folge hat, dass die Sünde auflebt und so zum Tode führt (Röm 7,9-11).

3. Theologische Perspektivierung

Dennoch ist es überraschend, dass Paulus seinen „Dienst“ (διακονία) in diesem Gegenüber formuliert. Hier wird noch ein anderer Grund eine Rolle gespielt haben: Die Gegner nennen sich, wie Paulus im folgenden Brief, dem „Kampfbrief", in 11,22f zitiert, „Hebräer, Israeliten, Same Abrahams und Diener Christi“. Diese nahtlose Abfolge von jüdischen Ehrentitel und christlicher Amtsbezeichnung lässt ein heilsgeschichtliches Konzept erkennen, dass auf Kontinuität und Integration des Christusgeschehens in die vorausliegende Heilsgeschichte hinausläuft. Demgegenüber betont Paulus das prinzipiell Neue, dass mit dem Kommen Christi sich ereignet hat: „Siehe das Alte ist vergangen, Neues ist geworden“ (5,17b). Abgerundet wird dies in 2Kor 6,2 durch das Zitat aus Jes 49,8: „Zur willkommenen Zeit habe ich dich erhört, am Tag des Heils habe ich dir geholfen“, das Paulus trotz des Vergangenheitstempus des Zitats voll auf die eigene, durch Christus eröffnete Gegenwart bezieht: „Siehe, jetzt ist die hochwillkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils“.

Literatur

  • HORN, F.W.: Die Verheißung des neuen Bundes (Jer 31,31–34), in: Kollmann, B. (Hg.), Die Verheißung des Neuen Bundes. Wie alttestamentliche Texte im Neuen Testament fortwirken, BTSP 35, Göttingen 2010, 187–199.
  • Koch, D.-A.: Geschichte des Urchristentums. Ein Lehrbuch, Göttingen 22014, 310-315.
  • KUSCHNERUS, B.: Die Gemeinde als Brief. Die kommunikative Funktion der Metapher bei Paulus am Beispiel von 2 Kor 2–5, FRLANT 197, Göttingen 2002,172–180.
  • LINDEMANN, A.: Die biblische Hermeneutik des Paulus. Beobachtungen zu 2 Kor 3, in: Ders., Paulus. Apostel und Lehrer der Kirche. Studien zu Paulus und zum frühen Paulusverständnis, Tübingen 1999, 37–63.
  • WOLTER, M.: „Das Geschriebene tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2Kor 3,6). Ein Versuch zur paulinischen Antithese von γράμμα und πνεῦμα, in: SÄNGER, D. (Hg.), Der zweite Korintherbrief. Literarische Gestalt – historische Situation – theologische Argumentation. Festschrift D.-A. Koch, FRLANT 250, Göttingen 2012, 355–380.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Fenster hinein in die exegetischen Erkenntnisse geöffnet, zeigen mir, dass sich das Gesamtanliegen des zweiten Korintherbriefes auch hier auf den wenigen Zeilen offenkundig macht: Das zutiefst Persönliche des gesamten Briefes spürt man hier, das Ringen Wiederherstellung von Beziehungen. Marlene Crüsemann spricht von „paulinische[r] Beziehungstheologie“ (S. 190). Selbst wenn die Annahme absolut plausibel ist, dass der Brief in mehreren Phasen entstanden sein wird, so wie (A) darlegt, der rote verbindende Faden ist und bleibt die sehr persönliche Nähe und Thematisierung dieser Nähe von Paulus zur Gemeinde und die damit verwobene Beziehung zwischen Jesus und dem Apostel. Die Leidenschaftlichkeit des zweiten Briefes an die Korinther verbunden mit exzellenter Briefrhetorik verblüfft - selbst in dieser kurzen Passage, deren Abgrenzung ja bereits problematisiert wurde. Unter Aufnahme des exegetischen Votums für die Weitung des Blickwinkels über die unmittelbare Perikope hinaus, fällt auf, dass die Passage schon in V.1 fragend und mit vollem Ernst beginnt: Wohin sind wir miteinander gekommen, dass jetzt Empfehlungsschreiben über das Weg und Richtung einer Gemeinde entscheiden werden? Hier wird mit Leidenschaft selbstverständlich auch der Wettbewerb um Einfluss betrieben. Auch wenn sich die rasante Argumentation des Paulus intensiv darum zu drehen scheint, es wäre verfehlt, ihn allein darauf zu reduzieren, dass er sich in Konkurrenzsituationen durchsetzen muss. Die exegetisch motivierten Fragen zur Abgrenzung der Perikope und damit der Gedankeneinheiten unterstreichen das. Hier steht mehr auf dem Spiel als gute Kommunikation in kompetitiver Situation, mehr als eine Performance des Apostels. Auch wenn die Frage nach Schwäche, auch wenn die permanente Angreifbarkeit aufgrund der eigenen schwachen Erscheinung des Apostels immer wieder thematisiert wird, sie ist alles andere als ein Kreisen des Apostels um sich selbst. In der größeren Sinneinheit dieses Abschnittes zeigt sich: Es geht um die Grundlagen des Dienstes des Einzelnen, wie schwach und angreifbar er auch sein mag. Ebenso steht die Basis des Auftrags der gesamten Gemeinschaft auf dem Spiel. Darum braucht es diese grundsätzliche Vergewisserung zur Zukunft der Gemeinde mit dem Messias Jesus. Diese Zukunft klärt sich dann am besten, wenn sich die Gemeinde daran rückbinden lässt, woher sie kommt und in was für einem Beziehungsnetz sie lebt und arbeitet. Paulus stellt klar, dass er andere Referenzen (wie z.B. Empfehlungsbriefe) für unpassend hält. Das ist sympathisch, wenn man sich heutige Praktiken der Eigenwerbung vor Augen führt. Hier sind es die in Teil A näher benannten Hinzukommenden, die Empfehlungsschreiben mitbringen. Sie wollen mit diesen schon in der Antike nicht ganz unüblichen Referenzen den Einfluss des Paulus wohl überbieten und selbst Deutungshoheit gewinnen. Dass deren Idee und Methode nicht einzigartig ist, weiß man aus der historischen Forschung. Paulus stellt mit Selbst- und Auftragsbewusstsein klar: Er hat das nicht nötig! Paulus muss sich nicht auf diese Weise empfehlen, anbieten oder irgendwelche Besserstellungsmerkmale präsentieren. Er hat diese Gemeinde gegründet. Er kennt sie und steht ihr besonders nah – über fast jeden Dissens hinweg. Er ringt um die enge Bindungskraft gerade im Konflikt. Ich sehe da eines der paulinischen Anliegen: Wo es nur noch um die Konkurrenz angesichts sich jeweils überbietender Referenzen geht, besteht akut Gefahr. Die Gemeinschaft der Getauften könnte ihre Zeugniskraft und Ausstrahlung einbüßen. Diese Gefahr muss ihn sehr besorgt haben. Darum der harsche Anfangston. So schnell gibt Paulus nicht auf. Diese Gemeinde ist sein Herzensinvestment! Aber noch einmal: Diese Argumentationslinie allein wäre für die heutige Verkündigung kaum relevant, würde in den Ausführungen des Paulus dessen Kernanliegen übergangen werden. In den Fokus rückt die Leitfrage, auf welchem Grund die Kirche steht - und welcher Auftrag sich damit verbindet. Anders und unter besonderer Berücksichtigung von V 6 gesagt („der Geist aber macht lebendig“): In welcher Geisteskraft lebt die Gemeinde ihre Beauftragung? Aus welchen Schätzen schöpft die Gemeinschaft in ihrem Dienst und ihrer Verkündigung?

2. Thematische Fokussierung

Zwei Herzstücke paulinischer Theologie schimmern auf, wenn wir voraussetzen, dass die zugrunde gelegte Perikope nicht allein auf die Verse 3 bis 6 reduziert wird. Es bleibt lohnend, sowohl die vorhergehende Gedankeneinheit zum (angefochtenen) Dienst aus Kapitel 2 (V.14-16) einzubeziehen als auch mindestens die in Klammern gesetzten Verse 7 bis 11 des dritten Kapitels zum verheißungsvollen Dienst aus dem Geist des Lebendigen mit in Betracht zu ziehen. Es geht um eine vergewisserte Neubegründung des Dienstes der Verkündigung, die das Kernstück einer Gemeinde ausmacht und eine entsprechende Klärung so essenziell macht. In aller Schwachheit und Begrenztheit kann der Apostel, und mit ihm die verunsicherte Gemeinde, davon ausgehen, dass Gott gerade nicht auf Abstand zu allem, was endliches und angefochtenes Leben so elend macht, gegangen ist. Gott hat sich in dieses Elend hineingestellt. Einen besseren Grund gibt es nicht für das in V.4 besprochene Vertrauen durch Christus in Gott. Von dort her befähigt, sieht sich der Apostel, nicht aus sich selbst!, zur lebendigen Botschaft, zum Brief Christi zu werden, und zwar im aktiven Dienst eines Lebens, das sich selbst im Vergehenden schenkt.    Für Paulus bleiben die Weisungen Gottes mit ihrem offenbaren Charakter in Geltung und tragen ihren weiterhin verheißenden Charakter. Aber: Als Weisungen bestehen sie, als Buchstaben (des Gesetzes) bestehen sie nicht einfach in sich und aus sich selbst. Sie weisen den Weg ins Leben, indem sie in das Licht einer Doxa gerückt werden, mit der bereits Mose in Kontakt gekommen war. Es ist die Kraft der Doxa Gottes, die von der geglaubten Erweckung des Gekreuzigten herkommt. Gott hat mit dieser Erweckung allen Todesmächten endgültig eine Grenze gesetzt. Von daher ist der Weg des Lebens mit Jesus ein Weg, der die Weisungen Gottes zu schätzen und daran zu halten weiß. Viel kraftvoller sagt es das von (A) aufgenommene Zitat aus 5,17f: „Neues ist geworden“.

3. Theologische Aktualisierung

Wenn Auftrag und Dienst intern wie extern attackiert und in Frage gestellt werden, hat das existenzielle Dimensionen. Das ist die Wirklichkeit des Apostels, der sowohl mit den defizitären Seiten seines Dienstes als auch mit Angriffen von außen konfrontiert war. Immer wieder erleben Menschen im Dienst solche oder so ähnlich alptraumartige Wirklichkeiten: Sie stehen nicht nur – wie der Apostel Paulus - unter erheblichem Rechtfertigungsdruck; sie sehen sich insgesamt in Frage gestellt. Ob solche Konflikte, wenn sie dann zu einem Konflikt der Gemeinschaft werden - vom Ende her gesehen - als hilfreich und klärend eingeschätzt werden können, oder ob ein schließlich nicht mehr zu heilender Bruch das Resultat ist, es bleibt auch etwas Unauflösbares. Der 2. Korintherbrief sensibilisiert dafür und kann sich wie ein Dokument der Mahnung zur Besonnenheit und Klarheit lesen lassen. Vor allem ist er ein Dokument, das die Kraft der Beziehungen ins Licht hebt, die eine besondere Qualität aufweisen: Sie verstehen sich von der Kraft her, die Gott in seine Beziehung zu dem Menschen Jesus gelegt hat. Es ist diese entscheidende Beziehungsstärke, die befähigt und trägt. Den aktuellen Gehalt dieser Passage dagegen allein am Umgang mit Konkurrenzfragen im Miteinander festzumachen, hieße, ein Allerweltsthema zu traktieren. Die Frage um Konflikt und Konfliktfähigkeit ist zwar bleibend aktuell. Das Ringen um Qualität in der Streitkultur inmitten von Auseinandersetzungen um Richtungsklärungen, hat Konjunktur. Die paulinischen Argumentationslinien reichen weiter: Was wir aus uns ersinnen, bleibt begrenzt. Wo Gott uns Wege ersinnt über unsere so schmerzhaften Begrenzungen hinaus, gehen wir in seiner Kraft auf (s)eine Klarheit zu, die schon jetzt neu aufleuchtet.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Am 20. Sonntag nach Trinitatis vermittelt sich in den Gemeinden vielerorts noch etwas vom Nachhall des Erntedankfestes. Erntegedanken und Herbstmomente gehen ineinander über. Sie verbinden sich mit der inneren Vorbereitung auf die dunkle Jahreszeit. Die Frage danach wo-ran man sich halten, anhalten und worin verankern kann, stellt sich in dieser Phase des Jahres noch einmal zentral: „Wer jetzt kein Haus mehr hat..“ Was bleibt hoffentlich nicht heillos unordentlich in meiner persönlichen Ernte- und Bilanzzeit? Was ist ein guter Rahmen für mein Leben, eine hilfreiche Ordnung, die mich ankert, orientiert, aber nicht in meiner Freiheit beschneidet? Die Frage ist nicht allein im persönlichen Kontext relevant, sondern betrifft alle Beziehungen, gemeinschaftlich und gesellschaftlich: Tragen die Ordnungen heute noch und morgen und ermöglichen ein freiheitliches, verantwortliches Leben? Bewusst ist hier der Ordnungsbegriff weiter als im religiösen Sinne gefasst. Denn so wird ja gefragt, wo Menschen meinen, vieles von dem, was sie als ungeordnet und chaotisch verunsichernd erleben, kaum noch (er)tragen zu können. Die Fassaden alter Ordnungen werden als bröckelnd erlebt und beschrieben. Da ist einerseits von Ratlosigkeit und Erschöpfung die Rede. Und da gibt es gesellschaftliche Kräfte, die das andererseits für sich und den Ausbau ihres Einflusses auszunutzen suchen. In Zeiten besorgniserregender Machtkämpfe erleben Menschen Verbundenheiten und soziale Bindungen, die bisher getragen haben, oder zumindest so bewertet wurden, als zunehmend brüchig. Und wenn wir uns wieder auf die evangelischen Gemeinden fokussieren, muss gesagt werden: Was gegenwärtig von Christen als kaum noch geordnet oder Halt gebend erlebt wird, kann mit dem intensiven Blick auf die Ordnungen und Weisungen Gottes am 20. Sonntag nach Trinitatis nicht unberücksichtigt bleiben. Auf die fragenden Stimmen und verunsicherten Stimmungen der Zeit lässt sich in der Verkündigung im Richtungssinn der paulinischen Argumentation eingehen. Gottes Verbundenheit mit uns, das Bündnis, das paradoxerweise vom Sterben Jesu Christi her leuchtet, das ist das Fundament für alle Verbindlichkeiten, die die Weisungen Gottes sind. Ohne die Entscheidung Gottes auf Golgatha für den Menschen, ohne diese Entscheidung Gottes, sich auf unsere Seite zu stellen, auf die Seite derer, die sich nicht selbst vor dem Tod retten können, fehlte den Ordnungen Gottes, die nichts anderes als Ordnungen zum Leben sein wollen, die Basis. Aus dieser Verbindung Gottes mit den Sterblichen, aus der Entscheidung Gottes heraus, sich auf die Seite der Sterblichen zu stellen, erhalten die Ordnungen eine neue Strahlkraft. Wir können uns neu mit ihnen verbinden. Es geht somit um neu vergewisserte Verbindlichkeit zwischen Gott und Mensch.

Interessanterweise wird in zeitlicher Nähe des 20. Sonntages nach Trinitatis in diesem Jahr der „Weltposttag / Tag des Weltpostvereins“ begangen. Es muss ja dieses Datum nicht allein nur als weltweit begangener Hinweis auf die Postdienste gesehen werden. Ein kleiner wertschätzender Seitenblick auf die Kunst des Briefeschreibens überhaupt bietet sich an. Denn Paulus wirbt: „Ihr seid unser Brief, in unser Herz geschrieben, erkannt und gelesen von allen Menschen.“ Abgesehen davon, dass hier gemeint ist, wie sehr die Menschen der Gemeinde lebendige Botschaften sind und damit den Erfolg des Paulus auch bezeugen, geht es hier noch um einen anderen Teilaspekt: Es ist nicht nur eine der schönsten Weisen menschliche Verbundenheit auszudrücken, indem Brücken durch Briefe gebaut werden. Es ist darüber hinaus ein starkes motivierendes Bild, das Paulus aufruft und an das sich anknüpfen lässt: Menschen können mit ihrem ausgebildeten Sendungsbewusstsein, ihrer ausstrahlenden Haltung und ihrer gemeinschaftlichen Kraft buchstäblich zu offenen Briefen Jesu Christi, werden – und zwar für alle, die bereit sind, solche besondere „Post“ zu empfangen. Sei du selbst der Brief, der nicht mit vertrocknender Tinte, sondern mit und aus lebendigem Geist entstanden ist. Gib dem lebendigen Geist die Gelegenheit, durch dich hindurch erkennbar und spürbar zu werden.

Autoren

  • Prof. a.D. Dr. Dietrich-Alex Koch (Einführung und Exegese)
  • Dr. Christina-Maria Bammel (Praktisch-theologische Resonanzen)

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